Werke Verzeichniss
Opus: 1
Mobile für Klavier (1962) op. 1 – 8 Strukturen – Dauer unbestimmt, jedoch mindestens ca. 6’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Mobile für Klavier (1962) op. 1
Das Mobile für Klavier ist Hans Hanebeck gewidmet. Hans Hanebeck war Bundesrichter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe und ein feinsinniger Musikliebhaber, insbesondere der Musik des 20. Jahrhunderts. Bei ihm öfter zu Besuch hörte ich u. a. zum ersten Mal das Berg-Violinkonzert und war danach völlig aufgewühlt. Hans Hanebeck vermittelte mir unauslöschliche Eindrücke.
Was die Vermittlung von Neuer Musik angeht, konnten wir Gymnasiasten der 60-er Jahre überhaupt nichts erwarten. Entweder fiel der Unterricht fast die ganzen Jahre weg oder, wenn wir dann zwischendurch einmal Musikunterricht bekommen hatten, haben wir Lehrer vorgesetzt bekommen, die im Dritten Reich ausgebildet wurden und, was die avancierte Musik des 20. Jahrhunderts angeht, von Tuten und Blasen keine Ahnung hatten. auch weil sie diese nicht mochten und sich in unverantwortlicher Weise nicht darum kümmerten. Meine schulischen Erlebnisse waren hauptsächlich geprägt von Singen, z. B. 'Wenn die bunten Fahnen wehen' oder weiterer einschlägiger 'Volkslieder', oder von 'biographischen' Geschichten wie die des "armen verwilderten und verdreckten Beethoven, der einfach keine Frau finden konnte" (so der Originalton unseres Musiklehrers, einem ehemaligen Kompositionsschüler von Hans Pfitzner und verkrachtem Genie, dessen Werkliste sich damals bereits schon in den Achttausendern bewegte [... und Simon Sechter lässt grüßen!]). Später in den 70ern habe ich dann einen Schulmusiker kennen gelernt, der, wenn er den Dux einer Fuge meinte, immerfort vom "Duce" gesprochen hat. Ich stellte ihn zur Rede, woraufhin er treuherzig fragte: "Ist das so schlimm?" – und ganze Schülergenerationen haben's so von ihm gelernt! (Ich vermute auch, dass seine 'Erklärkünste', was eine Umkehrung, ein Krebs, eine Krebsumkehrung sei, sehr beschränkt gewesen sind). Nein, von solchen Leuten konnten wir nichts über die Musikentwicklung des 20. Jahrhunderts und wie es dazu gekommen ist erfahren. Alle meine Schulmusiklehrer mochten die Neue Musik nicht. Deshalb auch haben sie auf diesem Gebiet nichts aufgearbeitet und deshalb konnten sie auch nichts vermitteln. (Letzterer Lehrer, der 'Duce', meinte im Vollbesitz höherer Einsichten, dass ja doch alles nur ein Experiment sei, das, weil eben ein Experiment, von vornherein schon zum Scheitern verurteilt sei; das habe alles keine Substanz). Nein, von solchen Leuten konnten wir wirklich nichts erwarten.
Doch wie sonst konnten wir an die Neue Musik herankommen? Im Klavierunterricht war das Neueste, was ich spielte, der 'Ludus tonalis' von Paul Hindemith, den ich vor Neugierde gerdezu verschlang. Doch eigentlich war er mir nicht modern genug. Meine Klavierlehrerin - für damalige Zeit eine Seltenheit - war jeder neuen Musik gegenüber recht aufgeschlossen, und sie bestärkte mich auch darin, selbst neue Wege zu suchen. So erfand ich damals aufgrund von spärlichen Lexikonartikeln meine eigene Art von Zwölftonkomposition. Und komponierte gleich mehrere Klavierzyklen, die ich dann selbst gespielt habe. (Auch eine Schallplatte habe ich davon machen lassen, die ich meiner Freundin schenkte).
Eine weitere Möglichkeit, an neue Musik heranzukommen, wenn auch nur sehr bedingt, waren die Symphoniekonzerte der Badischen Staatskapelle in Karlsruhe. Pro Konzert wurde immer ein neues Stück gespielt, das zwar vom Datum her neu war, jedoch nicht von der Substanz (und die Orchestermusiker rissen ihre Zoten über Alles, was nur in Richtung Moderne gegangen war). Um an wirklich neue Musik heranzukommen hatten wir damals, in den 60-er und anfänglichen 70-er Jahren, nur eine Chance: das war das Nachtprogramm des Südwestfunks Baden-Baden. Es sendete Neue Musik ein- zweimal pro Monat nach Mitternacht. Doch immerhin!
Als Studenten, besonders Kompositionsstudenten, vermissten wir Schallplattenspieler und die entsprechenden Schallplatten besonders von neuester Musik. Sie gab es so gut wie nicht zu kaufen. Keiner war bereit, das Produktions- und Vertriebsrisiko zu tragen, und außerdem, wenn's diese Schallplatten gegeben hätte, wären sie für unser damaliges dünnes Budget zu kaufen unerschwinglich gewesen. Gerade deshalb vermissten wir schmerzlich Magnetophone, mit denen wir die wenigen Radiosendungen Neuer Musik hätten aufnehmen können. Hans Hanebeck war in der für mich beneidenswerten Lage, Schallplatten Neuer Musik und einen Plattenspieler zu besitzen. Ihm zum Dank und auch in der Gewissheit, von ihm in meinen Ideen verstanden worden zu sein, schenkte ich ihm mein Opus 1.
Man kann sich kaum vorstellen nach all den Jahren der von mir so schmerzlich empfundenen Ödnis, wie erfüllt ich von meinem erstmalig erlebten Darmstädter Ferienkurs und der Fülle der dort aufgeführten und in Seminaren vorgestellten Neuen Musik und ihren Umständen war. Wieder daheim komponierte ich das Mobile in einem wahrlichen Rausch - ich meine, es sei an einem einzigen Tag gewesen – und habe mir in einem Anflug von Freiheit alles von der Seele geschrieben, das ich zwar bis dahin ahnte, aber nicht wusste, wie es in die Wirklichkeit umzusetzen ist. Das war im August 1962 in Karlsruhe.
*
Die Idee des Mobiles besteht darin, eine offene Form aus acht in Anlage und Klangbild möglichst unterschiedlichen Sektionen zu bilden. Die Reihenfolge der Sektionen ist vom Pianisten während seines Spiels zu wählen. Spezifische Pedalvorschriften des Haltepedals tragen den Klang der voraus erklungenen Sektion in die folgende hinein. So entstehen Klangverbindungen und -beeinflussungen der Sektionen untereinander.
Stuttgart, 9. 12 1972
Leonberg, 18. 9. 1996 und 30. 3. 2008
U: Wolfgang Dietrich, 1962, Schloss Bauschlott bei Pforzheim
Opus: 2
Quintett für Fl., Klar. (B), Hf., Gg., Cello (1962/63) op. 2 – Variationen über kein Thema – ca. 5’15" – Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Quintett für Flöte, Klarinette (B), Harfe, Geige und Cello (1962/63) op. 2
Das Quintett für Flöte, Klarinette (B), Harfe, Geige und Cello ist meinem Kompositionslehrer Jacques Wildberger gewidmet. Das Quintett entstand um die Jahreswende 1962 auf 63 in der Koblenzerstraße 5 in Karlsruhe-Dammerstock.
Das einsätzige Stück stellt eine Folge von zehn Variationen dar, in welcher der Goldene Schnitt eine besondere formbildende Rolle spielt. Nach diesem läuft die Entwicklung jeder Variation in einer längeren Zeitstrecke auf ihren Höhepunkt zu, ab dem sich die bis dahin aufgebaute Spannung in der harmonisch dazu stehenden kürzeren Zeitstrecke wieder abbaut. Die Achsen, an denen sich die Spannungsverhältnisse wenden, werden durch die beiden von ihrer Umgebung isolierten Töne des großen Septsprungs a – gis hervorgehoben. Das gilt ebenso für die Megaform des gesamten Stücks, wie auch für jede einzelne Variation. Immer an der Stelle der Harmonischen Teilung stehen isoliert von allem Übrigem die beiden Töne a - gis. Auch beginnt und endet das Quintett mit den Tönen a – gis.
Das Quintett besteht aus zehn Zyklen von Variationen, ohne dass ihnen wie gewohnt ein Thema vorangestellt ist, über dessen Klänge und Rhythmen die nachfolgenden Variationen zu entstehen hätten. Was hier variiert wird, sind die Verknüpfungen von Reihenmodi, die zu ständig neuen Klang- und Rhythmusbildungen führen. Das Quintett beginnt langsam ohne spürbares Tempo. Nach und nach wird Tempo immer bewusster und schneller, solange, bis keine instrumentale Steigerung mehr möglich ist. In diesem Punkt schlägt das Tempo um in Transzendenz, in einen Zustand ohne reales oder fassbares Tempo. Damit ist der Endzustand aller Bewegung eingetreten: Ruhe. Ruhe ist in einem natürlich ablaufenden Prozess keine Anfangsbedingung, sondern das Ende, das Ziel, im Quintett allerdings nur ein kurzes Schauen in eine andere Welt. Dieser Zustand absoluten Tempos, also des Zustands der zeitlichen Beziehungslosigkeit ist der formale und emotionale Höhepunkt des Quintetts. Danach wieder in die Realität zurückgekehrt setzt spürbares Tempo in seinem höchsten Grad wieder ein, um sich im weiteren Verlauf des Stücks Zug um Zug bis zu seinem Ende wieder völlig abzubauen, perpetuierend in den immer kleineren Verhältnissen des Goldenen Schnitts.
Stuttgart, 9. 12. 72, Leonberg, 14. 2. 04
U: 1963 (?), mit Musikstudenten, Dirigent Kostis Nonis, im Saal der Kusikhochschule Karlsruhe, Jahnstr. 18
Opus: 3
1. Orchesterstück – Fl., Ob., E. H., Klar. (A), Baßkl., Fag. / Hr. / Xylo., Vibra., 2 Pk., 2 kl. Tr., Triangel, Bk., Schellenbk., 2 Tamt., Claves, Holztr., Hf. / Str.-qu. (chörig) (1963/64) op. 3 – Dauer 5’30“ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
1. Orchesterstück (1963/64) op. 3
Fl., Ob., Eh., Kl. (A), Bßkl., Fg., / Hr., / Xylo., Vibra., 2 Pk., 2 kl. Tr., Triangel, Bk., Schellenbk., 2 Tamt., Claves, Holztr., Hrf., / Str.-qu. (chörig)
Das 1. Orchesterstück ist 1964 in Karlsruhe-Dammerstock, Koblenzerstr. 5 entstanden.
Das Stück verläuft als Wucherung, die aus einem Anfangszustand sieben weitere völlig verschiedene Zustände hervorbringt. Dabei erweisen sich alle sieben Zustände je als Reaktion auf den Vorausgegangenen. Auf diese Weise entwickelt jeder dieser Zustände einen eigenen Klangverlauf von ständig schwankenden Dichtegraden, was für den gesamten Prozesss von zentraler Bedeutung ist. In diesen Zuständen entstehen eigenständige vom Gesamtverlauf abgekoppelte Tempi als Eigenzeiten. Weil diese Eigenzeiten als Unterordnungen eines alles überspannenden Grundtempos erlebt werden, ist der Gesamteindruck mehr als die bloße Summe ihrer Einzelteile, also mehr als die bloße Summe der einzelnen Zustände.
Die Technik dieses 1. Orchesterstücks beruht auf einer wuchernden zwölftönigen Kanontechnik, deren Ziel es ist, den Klang und seine Organisationsprinzipien ständig so zu komponieren, dass der weitere Verlauf des Stücks nicht vorhersagbar ist, wodurch ein generelles, gar krebsförmiges Zurückgehen in vorausgegangene Zustände unmöglich ist. Die Zeit prozediert und läuft nicht rückwärts. Derart am Ende angekommen hat das Stück seinen Anfang vergessen. Außerdem habe ich entgegen aller Kanontechnik nicht angestrebt ein kontrapunktisches Herausarbeiten und Gegenüberstellen von Einzelstimmen. Gesucht habe ich vielmehr die Organisation von geradezu zufällig entstehenden Klangkomplexen vom einzelnen Ton bis zu Knäueln unterschiedlichster Dichte und Größe, gesucht habe ich ferner einen dynamischen Gesamteindruck, der sich zusammensetzt aus den differenziertesten Werten, und einer Instrumentalfarbe (Instrumentation), die sich bewegt im Wechselspiel zwischen Spaltklang und harmonischem Zentralklang. Solcherlei wuchernde musikalische Gestalten erleben wir in ihrem Zusammenwirken als einen vierdimensionalen beweglichen musikalischen Raum, in dem die Zeitkoordinate sich als Wechselwirkung erweist zu den drei Raumkoordinaten. Dadurch ist unsere musikalische Raumvorstellung ständig in Bewegung; sie wandelt sich mit der Zeit von Augenblick zu Augenblick. Jeder einzelne Zustand, und was in ihm passiert, setzt sich von seiner Umgebung ab. Die sich stetig verändernde Raumvorstellung und die sich ebenso stetig verändernde semantische Bedeutung aller Teile sind die treibenden Kräfte des 1. Orchesterstücks. Sein äußerst sensibler bisweilen fast impressionistischer Klang gibt die Konstruktion seines Entstehens nicht preis, nicht einmal ein Erahnen davon. Und das ist auch gut so.
Leonberg, 15. 2. 2004
Opus: 4
1. Streichquartett (1963/64) op. 4 – zwei Sätze [unbez.] – 5'45" – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
1. Streichquartett (1963/64) op. 4
Am zweisätzigen 1. Streichquartett habe ich mit Unterbrechungen in den Jahren 1963 und 64 gearbeitet. Es in Karlsruhe-Dammerstock Koblenzerstraße 5 entstanden. Die Absicht, handwerklich komplizierte Kanons zu schreiben, die ich nach Vorarbeiten im 1. Orchesterstück op. 3 schließlich dann im 1. Streichquartett op. 4, wie ich meine, ideal verwirklicht habe, geht auf ein ausführliches Gespräch mit Joep Strasser, einem niederländischen Komponisten, zurück. Ich hatte ihn zufällig im Bahnabteil auf der Fahrt zu den Donaueschinger Musiktagen kennen gelernt.
Die beiden Sätzen gemeinsame Idee ist ein vierstimmiger Kanon, aufgebaut auf einer Zwölftonreihe, die in jedem Satz ihre eigene unveränderbare Dauerndisposition hat.
Der Kanon im ersten Satz ist so angelegt, dass die beiden Geigen einen Kanon spielen, denselben übrigens, der dann von der Bratsche und dem Cello nach etwas längerem Einsatzabstand nachgespielt wird: gewissermaßen ein Kanon im Kanon, ein Doppelkanon also. Diese beiden Kanonschichten sind als zeitlich voneinander unabhängige Zeitebenen komponiert, wobei jede Schicht jeweils mehrfach gestufte Tempobeschleunigungen und -verlangsamungen in trioligem Verhältnis durchführt. Das Kernproblem der Erfindung hat darin bestanden, eine unumstößliche und einmalige Dauerndisposition für den gesamten Satz zu finden, die bei synchron und asynchron ablaufenden Tempi der Kanonschichten nur solche Zusammenklänge zulässt, die exakt meiner Klangvorstellung entsprochen haben. In ihnen entsteht immer dieselbe Klanglichkeit.
Im Kern dieselbe Problematik, wenngleich an ihrer Basis unterschieden, stellt sich auch im zweiten Satz: Hier wird ein einziger vierstimmiger Kanon durchgeführt, der sich gelöst hat von den Instrumenten, um jeder Kanonlinie den gesamten Tonhöhenumfang einer ganzen Streichquartettbesetzung zu ermöglichen. Deshalb durchkreuzen sich die vier Stimmen ständig. So ist der Kanon als Idee nur noch verschlüsselt als Instrumentation zu verwirklichen. Das konstruktiv Besondere dieses Satzes besteht darin, dass jede Kanonstimme ab ihrer Mitte im exakt gespiegelten Krebs wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückläuft. Dadurch ergibt sich – jede Stimme ist gleichlang und jeder Stimmeinsatz erfolgte zu Beginn des Satzes sukzessiv – keine gleichzeitige gemeinsame Spiegelachse für alle Stimmen, sondern eine Zeitenfolge der einzelnen Spiegelachsen, die der ihres Einsatzabstandes zu Beginn des Satzes entspricht. Dies hat zur Folge, dass bereits ab der ersten Spiegelung sich die ursprünglichen Zusammenklänge nach jeder weiteren Spiegelung immer weiter versetzen. Die irreversible zweite Satzhälfte stellt wegen ihrer im Prinzip schräg verlaufenden Spiegelachse nicht einfach nur eine Vorzeichenänderung eines zeitlichen Vorgangs dar, die den bisher positiven Zeitverlauf in einen negativen umkehrt (sic Newtons irreale und abstrakte Zeitvorstellung). Auch hier garantiert die nun einmal getroffene einmalige und unveränderliche Dauern- und Tonhöhendisposition den von mir vor der Niederschrift der Komposition vorgestellten Klang.
Stuttgart, 10. 12. 1972
Leonberg, 4. 5. 1995
Ursendung 1977 SWF Baden-Baden mit dem Pandula-Quartett
öffentliche U: Primavera-Quartett Karlsruhe: Dorothea Jügelt, Manfred Holder, Barbara Wojciechowska, Beate Holder, 19. 1. 1993, Theater im Spitalhof, Leonberg, 3. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
Opus: 5
Elegie ... für Solo-Bratsche und kleine Kammerbesetzung (1966) op. 5 – Solo-Br. / Fl., Triangel, Bk., 2 Tamt., Vibra., Marimba., Röhrengl., Cemb. + Klav. (1 Spieler) – Dauer 4’20“
Elegie für Solobratsche und kleine Kammerbesetzung (1966) op. 5
Solo-Br. / Fl. / Triangel, Bk., 2 Tamt., Vibra., Marimba., Röhrengl., Cemb. + Klav. (1 Spieler)
Die Elegie ist als eine Arbeit zu meiner Künstlerischen Reifprüfung für Komposition 1966 in Karlsruhe-Dammerstock Koblenzerstr. 5 entstanden. Das Stück ist dem Bratscher Werner Ehrbrecht gewidmet, der mir mit seinem spieltechnischen Rat beigestanden ist.
In der einsätzigen für das Vierteltonsystem konzipierten Elegie habe ich die Sensibilisierung im Bereich der Tonhöhen und Dauern auf technisch neuem Weg angegangen: Zwölftontechnik mit Dauern- und Oktavlagenorganisation einerseits, Anreichern mancher in der Zwölftonreihe enthaltener Intervalle mit interpolierten Tönen und einem neuartigen Interpolationsverfahren von Reihenausschnitten andererseits. Dieses Verfahren verwendet in der Weise Einschübe, als es Ausschnitte irgendwelcher transponierter Reihenmodi verwendet. Dabei muss lediglich der erste mit dem letzten Ton einer Interpolation übereinstimmen. Die interpolierten Töne unterliegen im Prinzip ihrerseits denselben Dauernproportionen wie die Töne ganzer serialisierter Zwölftonreihen, jedoch verkleinert in jenem Maßstab, der sich bezieht auf die Dauer des ersten zu inter-polierenden Intervalltons. Dieser bezieht seine Tondauer aus der Dauernserialität seiner Zwölftonreihe. was für die Interpolation bedeutet, dass die Interpolation exakt in dieser zur Verfügung stehenden Zeit ausgeführt sein muss. Um das von mir entwickelte Interpolationsverfahren in Gang zu setzen, bildet man eine Linie zwischen den beiden Tönen der Zwölftonreihe, die an dieser Stelle interpoliert werden soll. Auf diese werden die zu interpolierenden Töne in zeitlich-maßstäblicher Notenschrift in derart verkleinertem Maßstab niedergeschrieben, sodass sich alle interpolierten Dauern auf jene Dauer einpassen, die für den ersten Intervallton der zeitlich serialisierten Zwölftonreihe vorgesehen ist. Weil die Verbindungslinie zwischen den beiden Tönen des zu interpolierenden Reihenintervalls immer diagonal verläuft, ergeben die maßstäblichen Abtragungen auf diese Projektionslinie in jedem Fall neue Töne: aus halbtönig gestimmten Tönen bzw. Intervallen werden Mikrostimmungen bzw. Mikrointervalle. Um größtmögliche klangliche Variabilität und rhythmische Flexibilität zu erreichen, können die interpolierten Töne bzw. Intervalle auf ihrer Projektionslinie verschoben werden, wodurch sich nicht nur ihre Tonhöhen sondern auch ihre Tondauern verändern, doch nur in Abhängigkeit voneinander als Wechselspiel von Raum und Zeit. So entsteht in dieser Art von Interpolations-verfahren ein Kontinuum aus Raum und Zeit – 1966.
In der Elegie sind die Modi und deren Transpositionen der zugrundeliegenden Zwölftonreihe so gewählt, dass sich ein kreisförmiger Ablauf im Reihenverbund ergibt. Der letzte Reihenablauf ist die Reprise zum ersten.
Stuttgart, 10. 12. 1972
U: Thomas Grund (Solo-Bratsche), ein Ensemble der Staatl. Hochschule für Musik Karlsruhe unter der Ltg. von Albert Dietrich, Februar 1971
Ursendung im SDR am 2. 6. 1971 mit denselben Interpreten
Opus: 6
... Gesänge ... für Sopran und Klavier [Orgel] (1969) op. 6 – Heimwehlied der Gefangenen zu Babel (Psalm 137), 6’; Aus tiefer Not (Psalm 130) 5’; Demut und Ergebung (Psalm 131) 3’ – Gesamtdauer 14' – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
... Gesänge ... für Sopran und Klavier (1969) op. 6
Die ...Gesänge ... sind innerhalb drei Tagen im Februar 1969 in Karlsruhe entstanden und Johanna Binder (später Johanna Erbacher-Binder) gewidmet.
Ein Text von Claudio Cardenal hat mich dazu angeregt, in drei ... Gesängen ... den Leidensweg des Volkes Israel so nachzuvollziehen, dass zwar die Psalmen in ihrer Aussagekraft unverändert Bestand haben, zugleich sich aber aktualisieren auf das Jahr 1969.
I Heimwehlied der Gefangenen zu Babel (Psalm 137)
Ba-by-lon ... a-y-lon … o o on. …sitzen wir und weinen? Krokodilstränen!! ... und denken an Zion. o ... Diese Wolkenkratzer und Nachtbars ... Und diese Musik! ... weinen müsste man! ... O Babylon. An die Trauerweiden haben wir unsere Harfen gehängt. Dort baumeln sie. O Zion! Wer hat sie aufgehängt?! ... Und wir hingen unsere Herzen an Zion und weinten. - m -. Singen sollten wir. Aber in fremdem Land singen wir weder Lob noch summen wir unsere Lieder. ... Und doch soll mir der Krebs den Mund zerfressen, wenn ich Jerusalem vergesse. O Jerusalem. Jerusalem meine Freude! ... Zerschmettert seien Babylons Kinder! ... a-y-o-on.
Nicht auszudenken, was sich in dieser Region seitdem schon wieder ereignet hat!
„An die Trauerweiden haben wir unsere Harfen (nicht doch Menschen!) gehängt. Dort baumeln sie. O Zion! Wer hat sie aufgehängt?! Und wir hingen unsere Herzen an Zion und weinten ...“
II Aus tiefer Not (Psalm 130)
Herr! Hilf mir vorwärtskommen. Nein, nein töte mich nicht! ... vergib mir ... ich stecke im Schlamm, ... Morast. ... Aus tiefer Not schrei ich zu dir, ... aus Sündennot. ... Nicht körperliches Leiden, Schmach, Strafe quält mich. ... Herr hilf! ... Herr Gott erhör mein Rufen, ... denn bei dir ist Vergebung. ... Israel hoffe auf den Herrn! ... Denn bei ihm ist wohlwollende Gnade ... und viel Sterben. Oder was ist Erlösung denn anderes! Offenbarung. Er wird Jerusalem von der babylonischen Gefangenschaft befreien und von der Sünde lösen, ... wie er uns erlösen wird.
Höhnend vor Verzweiflung über so viel Leid 25 Jahre zuvor:
„... Israel hoffe auf den Herrn! Denn bei ihm ist wohlwollende Gnade und viel Sterben. Oder was ist Erlösung (Endlösung) denn anderes?! Offenbarung ...“
III Demut und Ergebung (Psalm 131)
Mein Herz ist nicht hochmütig, dünkelhaft, überheblich, eingebildet, herablassend, eitel, selbstgefällig, aufgeblasen, hochnäsig, arrogant, anmaßend, blasiert und süffisant spöttisch. ... Wie bei Michal, die sagte: „Wie herrlich ist heute der König von Israel gewesen, der sich vor den Mägden seiner Knechte entblößt hat, wie sich die losen Leute entblößen!“, denn sie sahen den heldenhaften König David im priesterlichen Kleid opfernd und segnend springen und tanzen vor der Bundeslade ... zum Lobe Gottes ... und sie verachtete ihn ... in ihrem Herzen. Denn Davids Herz, mein Herz, ist nicht hochmütig und hochnäsig. Sein Herz ist demütig. Und ich? Will noch geringer werden vor meinen Augen, dann möge mir Gott gnädig sein. Israel, hoffe auf den Herrn von nun an bis in Ewigkeit!
Nach so viel Schmerz wird Vergangenes wieder Zukunft.
„... Israel, hoffe auf den Herrn von nun an bis in Ewigkeit!“
*
Die abgesehen von Zitaten einstimmige Musik – die Musik aus der Zeit der Psalmen war nun mal nur einstimmig – arbeitet mit Parallelismen*, die im Verlauf der ... Gesänge ... allmählich spärlicher werden, zuerst der Klang des Klaviers, dann der der Singstimme soweit, bis nur noch die Sprechstimme bleibt: das Zentrum der Aussage.
* poetisches Stilmittel u. a. in den Psalmen und der frühjüdischen-synagogalen Gebetsliteratur: Steigerung eines Gedankens durch die Wiederholung mit ähnlichen Worten.
Karlsruhe, 1969
U: Johanna Erbacher-Binder (Sopran), Walther Erbacher (Klavier), 28. 6. 1969, Gerlingen, Aula der Pestalozzi-Schule
Opus: 7
Ihr seid das Licht der Welt (Matth. 5, 14) für 16 Vokalsolisten (4, 4, 4, 4) (1969) op. 7 – Dauer 3'15" – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Ihr seid das Licht der Welt (Matth. 5,14) für 16 Vokalsolisten (1969) op. 7
Das im Mai 1969 in Karlsruhe und Stuttgart-Rohracker entstandene Stück für 16 Vokalsolisten Ihr seid das Licht der Welt (Matth. 5,14) ist für einen Kirchenraum mit riesiger Akustik angelegt. Das Stück besteht aus einem einzigen zwölftönigen Akkord, der sich im Verlauf des Stückes insoweit umstellt, als er pro Wort zwei seiner Töne in eine andere Oktavlage versetzt. Auf diese Weise erklingt im letzten Wort ‚Welt‘ der gänzlich umgestellte Ausgangsakkord ‚Ihr‘.
Der Text besteht nur aus den sechs Wörtern, die zugleich auch Titel sind: „Ihr - seid - das - Licht - der - Welt“. Jedes Wort wird in seine Phoneme zerlegt, wonach diese Phoneme ohne Rücksicht auf den Wortsinn im Wesentlichen repetitiv zusammengesetzt werden. Dadurch ergibt sich – nicht nur allein schon der Umstellung zweier seiner Töne zum vorausgehenden und nachfolgenden Wortklang wegen – für jedes Wort ein spezifischer Klang. Auch sind die Wörter von unterschiedlicher Länge. Kommt noch dazu, dass je nach dem Einsatzabstand der Wörter sich manche Klänge vorübergehend überlagern. Die ausgefransten Ränder der Klänge verschleiern ihren Beginn und ihr Ende.
Das Tempo ist dermaßen langsam, sodaß es gar nicht mehr empfunden werden kann. Die Zeit zerfließt in die Irrationalität. Damit ist freilich jener Umstand mit einkalkuliert, daß die Sänger ihre lang anhaltenden Töne – fast nie auf einen Atem gehend – auf die Dauer nicht exakt halten können. Kleine Verschiebungen im Mikrobereich der Tonhöhen sind die (beabsichtigte) Folge. Sie machen den Klang in sich bewegt und farbig. Um die Irrationalität der Zeit zu verdeutlichen sind ab und zu rasche Melismen eingewebt.
Jeder lange Ton ist zu seinem Beginn am lautesten zu singen, gerade so laut, daß er deutlich wahrgenommen wird. Er wir immer leiser, bis er unbemerkt verklingt. Die Melismen sind so geschmeidig wie möglich zu singen.
Ihr seid das Licht der Welt sollte im Chor einer dunklen riesigen (gotischen) Kirche aufgeführt werden, die Sänger in schwaches Licht getaucht, weich ausgeleuchtet das Kruzifix oder – wenn dieses zu klein – der Altar.
Stuttgart, 10. 12. 1972
U: Südfunk-Chor, Ltg. Hermann Joseph Damen, „18. Neue Chormusik Ludwigsburg“, 24. 10. 1970
Ursendung: SDR-Übertragung
Opus: 8
Aura onomatopoetica für 16 Vokalstimmen (4, 4, 4, 4) (1966/1969) op. 8 – 3 Teile [spielende Sänger: Musiktheater möglich] – 28’ – Breitkopf & Härtel
Aura onomatopoetica für 16 Vokalstimmen (1966 – 69) op. 8
4S, 4A, 4T, 4B
Die Aura entstand in ihren Grundzügen in den Jahren 1966 bis 69 in Karlsruhe. Die erste Partitur aus dem Jahr 69 wurde als Verbalpartitur angelegt. Der Sänger wurde gezwungen durch kurze möglichst eindeutige Beschreibungen des intendierten Resultats und durch Regieanweisungen ein Ergebnis zu imaginieren, wobei dem Sänger Gelegenheit gegeben war, seine eigene Individualität ins Spiel zu bringen. Um dies zu ermöglichen, waren fast alle Angaben ungebunden: Vorschriften für Stimmeinsätze fehlten gänzlich, die Dauern der Singverläufe blieben der Partitur fern, die Schichtung von Klangkomplexen war kaum vermerkt, die Tonhöhen wurden – wenn überhaupt – fast nur approximativ aufgezeichnet, an Eintragungen der Dynamik war selten gedacht, Skizzierungen von Singverläufen galten lediglich als Anregung – nichts weiter. Also waren alle komponierbaren Parameter aus der Partitur verschwunden. Was blieb, war nur das Drum und Dran, was sich mit traditionellen Mitteln nicht komponieren lässt (weil’s halt kein System dafür gibt!). Die nicht ins Komponieren bislang hineingelassene Spontaneität der Aufführung treibt hier in die Emanzipation des „Ausdrucks“. Bruchstücke musikalischer Verhaltensweisen bestimmen den Fortgang der Aura der ersten Fassung – der Verbalpartitur.
Die Sänger hatten Schwierigkeiten mit dieser Fassung, vor allem die Berufssänger. Die „ungebildeten“ Sänger achteten weniger auf Stimmklang, als dass sie viel mehr psychologisch unbelastet Spaß hatten und auch Spaß machten.
Für weniger zur Spontaneität neigende Chöre und Chöre, die auf akkurate Stimmbehandlung aus sind, habe ich im Mai 1972 eine weitgehend festgelegte Version geschrieben (die heute allgemein verwendete Ausgabe).
Karlsruhe 1. 1. 1973
U: Leerlingen van de Mime – en Theaterschool Amsterdam o. L. v. Bernard van Beurden, Grote Kerk Zwolle, internationale gaudeamus muziekweek 1970, 12. 9. 1970
U-Sendung im SWF: Schola Cantorum Stuttgart, Ltg. Clytus Gottwald, Ars-viva-Konzert des SWF in Trier, 26. 4. 1970 (Konzert), 20. 5. 1970 Ursendung
Opus: 9
EIDOS (1967/70)
für Ensemble, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter – Dauer unbestimmt (ca. 45’) –
zurückgezogen dafür:
Wunschkonzert für Herrn K. (...) [wird nie komponiert] –
Erbacher Musikverlag
EIDOS (1967/70)
für Ensemble, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter
Ursprünglich als op. 9 geführt, nach mehreren Aufführungen in den 80er Jahren zurückgezogen
In EIDOS (griech. Form, Gestalt) gerinnt Gegensätzliches zur Form, immer vermittelt. Die Ratio schlägt um in Empfindung und löst sich virtuell von der Materie - ein Zustand, aufregend und beruhigend zugleich. Kontemplatives mündet in Meditatives, Konvulsives und Transzendentes treiben ineinander. Ein Kaleidoskop. Kurven spannen sich, zähflüssig, im Ereignis mal eindeutig, mal unklar. Da brodelt's, will schier zerreißen, schafft's nicht. Sinkt immer wieder in sich zusammen und schwebt ... braucht viel Zeit. Wer hat Zeit?
Karlsruhe, 1970 (?)
U: Böblingen Stadthalle, 1971 (?) mit Johanna Binder (Sopran), Felicitas Bürkle (Flöten), Alexander Willscher (Klarinetten), H. Joachim Koinzer (Schlagzeug), Hubert Dapp (Klavier), Gerhard Hoffmann (Technik und Geräte), Walther Erbacher (Leitung, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter)
*
Wunschkonzert für Herrn K. (...) op. 9
Was eigentlich wünscht sich Herr K. zu hören? Melodie, Harmonie, Rhythmus ... darf’s zwischendurch auch mal etwas Marschmusik sein? ... dann wieder Getragenes? ... eine bunte Mischung aus ...? So werden Herrn K’s geheime Sehnsüchte entlarvt. Statt dass Herr K. aber das bekommt, wonach er sich sehnt, wird ihm der Prozess gemacht. Herr K. wird zum Tode verurteil. Herr K. wird hingerichtet. Nie hat er erfahren, welche Schuld man ihm zur Last legt. Seine Schuld ist, dass er sich etwas wünscht, wofür er sich nicht schuldig hält. Schließlich hat er immer nur seine Pflicht getan. Hätte man Herrn K. vielleicht doch lieber das geben sollen, was er sich gewünscht hatte?
Pforzheim, 14. 5. 1986
Es wird nie eine Uraufführung geben, weil ich das, was sich Herr K. wünscht, nicht erfülle. Dazu gehört besonders seine geliebte Marschmusik, bei der er regelmäßig von den alten Zeiten träumt. Du, stell’ dir bloß mal vor, wie du bei Tsching-da-rassa Tsching-da-rassa, bumm ... ins Träumen gerätst und kannst nix gegen die Trommelei machen! Da lass ich lieber die Finger davon!
Es soll mal einen Artilleriegeneral namens Bumm gegeben haben. Da fielen die Leute allein schon reihenweise um, wenn der sich ihnen bloß vorstellte. Dabei lachte keiner. Ihnen gefror das Lachen.
Opus: 10
... auf trümmerbedeckten Straßen ... ein Musikkonzept für Sopran, Sprecher, Instrumentalensemble, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter (1970) op. 10 – ca. 60’
... auf trümmerbedeckten Straßen ... - ein Musikkonzept (1970) op. 10
für Sopran, Sprecher, Instrumentalensemble, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter
Pforzheim wurde am Abend des 23. Februar 1945 in einem einzigen Luftangriff von 368 englischen Bombern weitgehend zerstört: Von 35 000 sich zu dieser Zeit in der Stadt befindenden Einwohnern fehlten nach 22 Minuten Angriff 17 000. Das sind prozentual mehr Tote als Hiroshima. Die Stadt brannte in bestimmten Gegenden eine Woche danach noch immer. Dort, wo zwar das Feuer erloschen war, waren die Trümmer aber noch so heiß, dass man sie noch immer nicht betreten konnte so wie auch die gesamte Innenstadt. Auf einer Länge von drei Kilometern und einer Breite von eineinhalb Kilometern brannten sämtliche Gebäude aus. Kein Stein blieb auf dem anderen. Nur noch bizarr aufgetürmte Trümmer, abgesoffene Keller, Berge von Leichen, ätzender Qualm und Ruhe, absolute Ruhe, gespenstische Ruhe, ab und zu unterbrochen vom Poltern zusammenkrachender Ruinen. Straßen gab es keine mehr. Sie waren meterhoch bis zur Orientierungslosigkeit verschüttet.
Meine Mutter, ihre Eltern und ich – viereinhalbjährig – hatten noch Glück, denn wir befanden uns am Rand der Todeszone. Das Haus, ein Betonhaus aus dem Ende der 20er Jahre, wurde zwar mit Myriaden von Stabbrandbomben durchsiebt, aber wir lebten. Wir entflohen dem Inferno über den Wartberg nach Ispringen ins Pfarrhaus vom Onkel. Auf der Flucht dorthin drehte ich mich alle paar Meter um und schaute hinein in den Höllenofen, dessen Rauchwolken den züngelnden Feuerschein spiegelten. Der ganze Talkessel war ein einziger beweglicher Feuerteppich in den Farben von dunkelrot fast violett bis hellgelb fast weiß, ständig wechselnd umhüllt von Schwaden des in die Höhe getriebenen Rauchs. Heraus ragte nur noch der Turm der Franziskuskirche, der wohl ganz geblieben war, in der Nähe des Bahnhofs. Der Turm war mir Orientierung. Sonst erkannte ich nichts außer Flammennestern und Rauch. Wenige Meter von unserem Fluchtweg ab die in ihren Schuppen brennenden Lastwagen und Anhänger vom Hecker, einem Umzugsunternehmen aus der weiteren Nachbarschaft. Ich sah zum ersten Mal ein Auto brennen. Doch das war Vordergrund. Wirklich bedrohlich, was ich unmittelbar begriffen hatte, war der Hintergrund. Seitdem weiß ich, was Urangst ist. Der Feuerschein am Himmel soll aus 150 km Entfernung noch zu sehen gewesen sein. Ein Vetter von mir war zu der Zeit in Hugsweier bei Lahr bei meinem anderen Großvater. Er meinte Karlsruhe, seine Heimatstadt, brenne. Im Umkreis von 70 km gingen an den folgenden Tagen Briefe und Aschestücke nieder. Der aus dem Feuer fahrende Sturm hatte sie aufgewirbelt und dorthin getrieben. Die Witterung im Februar war kalt, Frost. Eine Woche nach der Zerstörung haben die Bäume geblüht. Weiter weg war noch tiefer Winter.
Am 23. Februar 25 Jahre danach: Die Stadt und was an ehemaligen Bewohnern noch übrig geblieben ist, gedenkt der Tragödie. Als Komponist und Überlebender wollte ich mich öffentlich unbedingt einbringen. Dazu fühlte ich mich verpflichtet. Auch wollte ich das Gedenken keinesfalls denen überlassen, die noch immer nicht verstanden haben, was sie mit dem Krieg angerichtet haben. Sie sind zwar für den Angriff direkt nicht verantwortlich – das waren die Briten –, doch schuld an diesem fürchterlichen Luftangriff waren sie schon. Sie waren es, die den Krieg angezettelt haben. Und nichts Geringeres musste man diesen Leuten klarmachen. Nur ist die Frage wie?
(Und wie oft habe ich die Fanfare der BBC-Nachrichten beim Großvater Wieber gehört, ich hab sie heute noch in Tonhöhe und viel zu langsamem Tempo im Ohr. Diese Nachrichten zu hören war, wenn's rauskam, lebensgefährlich. Die Lauscher und Denunzianten waren überall. Der Hauswart schlich umher und meldete alles, was ihm verdächtig war. Mein Großvater, der von Afrika (der Goldküste) und der Insel Man sehr gut Englisch konnte, kümmerte sich einen Dreck um das Verbot. Er wollte wissen, wie die Gegenseite den Kriegsstand einschätzte. Zu dieser Zeit war er längst kein Bewunderer des Führers mehr, wie man mir viel später sagte. Wieso auch: Er hatte zwei Söhne verloren.)
Zunächst dachte ich an eine Kantate, die in einem zentralen Gedenkgottesdienst aufgeführt werden sollte. Doch diesen Gedanken habe ich schon sehr bald wieder verworfen. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer davon war, dass ich in der relativ knappen Zeit keinen geeigneten Text finden konnte, der sich mit dem Geschehen des Angriffs, seiner Vorgeschichte und seinem Danach kritisch auseinandersetzte. Ein weiterer Grund, weshalb ich die Idee einer Kantate verworfen habe, war die Ahnung, dass ich den Chorsängern etwas zumuten könnte, was sie garnicht haben wollten, weil sie sich damit nicht hätten identifizieren können und das sie deshalb auch mit allen Mitteln boykottierten. Doch Außergewöhnliches verlangt um es begreiflich zu machen nach außergewöhnlichen Mitteln (und nicht nach einer Kantate: übrigens wie gewöhnlich und daher fantasielos!). Nicht dass ich Unbegreifliches verständlich machen wollte. Dass 17 000 Menschen in den Tod gegangen sind, kann man nicht begreifen. Doch die Umstände, die dazu geführt haben, kann man, wenn man dazu bereit ist, sehr wohl verstehen. Ein weiterer Grund, weshalb ich von einer Kantate in einer Kirche abgerückt bin, ist ein physischer, zugleich ein ganz einfacher: Woher soll ich in der Anonymität eines solchen Gedenkgottesdienstes wissen, wer der ist, der sich neben mich gesetzt hat? Ist's vielleicht ein Ewiggestriger (der mich und meine Familie dem Tod überlassen hätte, nur weil er uns angeschwärzt hat, weil wir BBC gehört haben!)? Ich weiß es nicht, aber die Gefahr, dass es einer ist, ist gegeben. Auch 25 Jahre danach gibt's in Pforzheim noch immer erschreckend viele Nazis und Gesinnungsgenossen. Diesen Leuten darf man keine Bühne geben, auf der sie sich als Biedermänner wohlgelitten zeigen. Was diesen Leuten nottut, ist eine schonungslose Aufklärung und eine ebenso kritische Auseinandersetzung geführt mit allen nur aufzutreibenden Beweismitteln. Was diese Leute am wenigsten brauchen, ist eine verbrämende Trauer. Und genau dafür habe ich gesorgt. Diese Leute haben die Aufführung geschwänzt. Damit versammelte sich ein Stück Ehrlichkeit.
*
Ich habe mich nach der Abschrift von Meldungen und Berichten aus dem Stadtarchiv dazu entschlossen, jedem Musiker, jeder Musikerin das abgeschriebene Material als ungesichtete und einzige Vorlage in die Hand zu geben in der Überzeugung, dass im mitschwingenden Individuum so Vielschichtiges ausgelöst wird und zum Vorschein kommt, dass es gleichgültig ist, wer das grausige Geschehen miterlebt hat und wer nicht. (Nur zwei von acht hatten Erinnerungen an den Krieg). Klappt das, so explodieren Gesichte und Visionen. Der konkrete Gegenstand transzendiert. – Ausstellungshalle im Reuchlinhaus: Riesige Stellwände mit Riesenfotografien des Angriffs und seinen Folgen waren sternförmig zu Gassen gestellt. In jeder Gasse agierte ein Musiker oder eine Musikerin. Untereinander hatten sie keinen Sichtkontakt, sodass sie ihre Befindlichkeiten möglichst authentisch und unbeeinflusst von ihren Musikerkollegen von sich geben konnten. Alle hatten ein Mikrophon: Luftschallmikrophon oder Körperschallmikrophon. Sie waren über Kabel verbunden mit einem Zweiseitenbandmodulator, zwei Sinusgeneratoren, Reglern und Filtern, die in der Mitte des Raums für alle einsehbar waren. Ich hatte als Einziger Sichtkontakt zu den Musikern und steuerte die live-elektronische Anlage aus. Die modulierten und ausgesteuerten live-elektronischen Klänge wurden hörbar über riesige Lautsprechersäulen, in jeder Ecke des Raums eine. So vermischten sich die echten instrumentalen oder vokalen Klänge mit den modulierten im Saal zu einem quattrophonen Raumereignis. – Sekunden nach Beginn verharrte das Publikum regungslos, die Meisten stehend, tief betroffen bis zum Schluss: eine Stunde später. Erst Minuten danach fingen die Menschen an, sich zögerlich schleichend zu bewegen. Immer noch Stille. Dann aber brandete der erlösende Beifall los, minutenlang.
Stuttgart, 1. 9. 1973, Leonberg, 30. 3. 2008, Leonberg, 23. 2 2017
U: 23. 2. 1970, Gruppe informell (Johanna Binder, Stimme – Peter Michael Schiltzki, Sprecher – Hubert Dapp, Geige – Gerhard Walz, Klavier – Wolfgang Rihm, Klavier – Joachim Koinzer, Schlagzeug – Gerhard Hoffmann, Technik – Walther Erbacher, Leitung und live-elektronische Aussteuerung); zwischen Bildwänden mit Großfotos über die Auswirkungen des Angriffs im Reuchlinhaus Pforzheim
Opus: 11
... z. B. „Lauda eroica missa est (sit) ..., eine vulgär geistliche Musik als Protest gegen die perennierende Diffamierung der musica sacra zum Zwecke affirmativen Lobens und Dienens für 16 (schein)heilige Akteure (1969 - 73) op. 11 – ca. 30’ – Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
... z. B. „Lauda eroica missa est (sit) ...
eine vulgär geistliche Musik als Protest gegen die perennierende Diffamierung der musica sacra zum Zwecke affirmativen Lobens und Dienens für 16 (schein)heilige Akteure
(1969 – 73) op. 11
Die Lauda ist in den Jahren 1969 bis 73 entstanden. Beim Komponieren habe ich mich vom Streben nach Emanzipation leiten lassen. So ist das Charisma von innen her aufgebrochen, indem der Chor nicht mehr vom Liturg bestellt ist, sondern jetzt nunmehr eigenmächtig „Gottesdienst“ spielt. Der Liturg ist entlassen. Diese Emanzipation der „Begabten“ greift vital um sich. So kann die gefügte Sprache nicht mehr so tun, als ob nichts geschehen wäre. Ihre konsequente Reduktion bis zur Lautbildung gebiert Phoneme ohne sprachlichen Sinn und Zusammenhang. Ihre „Aussage“ wird unbestimmt und impliziert zugleich kompositorische Dialektik. Der Laut an sich wird frei, ebenso sein Hervorbringen als Prozeß körperlicher Artikulation. Dies schließt das Spielen mit dem Körper als selbstverständlich ein. Ebenso wie die Sprache partizipiert auch der Kirchenraum an dieser Freiheit, indem die Akteure ihn okkupieren. Sie tragen den Klang umher, hinein oder hinaus. Dabei gibt’s auch etwas zu sehen. Hörbares treibt in Sichtbares. Die Gangart steuert den Atem, haucht oder presst die Luft an den Stimmlippen vorbei. Die Lautbildung scheint gefährdet. Unhörbares entsteht, befreit vom Ballast gewohnter Zusammengehörigkeit. Das unartikulierte Maulen in und über die Lauda bringt vielleicht einen Moment des Aufruhrs und der Freiheit.
Stuttgart, 11. 9. 1972
... zur Lauda ...
Den Reiz, Tabus zu gefährden und mit ihrem Zustand zu spielen, genießen wir als Überlegenheit unseres Geistes. Wir wähnen uns der Affirmation entronnen. Kritik ist möglich. So scheint’s jedenfalls. Aber versteckt sich nicht vorgetäuschte Kritiklust hinter Neugier und angezettelter Konsumbereitschaft? Alte ästhetische Normen verbergen sich fordernd in unserer Erwartenshaltung: ideologisch, religiös, gar politisch – eine Ästhetik der Geborgenheit.
Hier macht die Musik nicht mehr mit. Sie gebärdet sich radikal, will sagen, sie bedient sich unerwarteter Mittel in ihrer überraschenden Komposition. So bricht diese Musik aus ihren erwarteten Normen aus. Sie ist ein Produkt und ein Zeugnis von Denken: Unerwartetes, Überraschendes und keine Geborgenheit. Diese Musik provoziert Situationen durch kompromißloses Denken und Handeln. Die Geister werden sich scheiden.
Stuttgart, 26. 10. 1974
Opus: 12
Modul für Frauenstimme, große Querflöte, Geige, Cello und Live-electronic (1974) op. 12 – Dauer 10’ – Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Modul für Frauenstimme, große Querflöte, Geige, Cello und Live-electronic (1974) op. 12
Der Modul entstand in seiner jetzigen Form Anfang 1974 in Stuttgart.
Der Umgang mit elektrisch modulierten Klängen machte das Entwickeln und Katalogisieren neuer Spielmöglichkeiten auf historischen Musikinstrumenten nötig, denn nicht alles, was ohne Modulation aufregend klingt, ist in moduliertem Zustand brauchbar und auch umgekehrt. So haben die Musiker der „Gruppe informell“ für jedes ihrer Instrumente einen auf die Apparatur (zwei Sinusgeneratoren, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter) abgestimmten Spielkatalog entwickelt, deren komponierbare Anwendung in einem Prozeß von Kombinationen organisiert ist. Modul ist besetzt mit Frauenstimme, großer Querflöte, Geige, Cello, und live-elektronischer Klangregie und Technik.
Stuttgart, 15. 2. 1974
U: Gruppe informell: Johanna Binder, Stimme – Felicitas Bürkle, Querflöte – Nicolaus Richter, Geige – Andreas Aißlinger, Cello - Gerhard Hoffmann, Technik – Walther Erbacher, Klangregie und Leitung; am 21. 10. 1972, Stiftskirche Tübingen
Opus: 13
Term für einen Cellisten (1973) – 4’30“ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Term für einen Cellisten (1973) op. 13
Der Term entstand in den letzten Apriltagen 1973 in Stuttgart und ist Andreas Aißlinger, dem Cellisten der „Gruppe informell“, gewidmet. (Andreas ist 1976 plötzlich an Blutsturz gestorben)
Den Term habe ich in mehreren Schichten komponiert, wie z. B. Pulsation, Grade zwischen Geräusch und Ton, Melodieverläufe bei Toncharakteren. Für jede Schicht habe ich simple unendliche Progressionsreihen aufgestellt, deren Teile Summen ergeben, die auf das Ganze schließen lassen. So z. B. der Beginn einer Reihe von der Schicht der Pulsation:
1/32, 1/16, 1/16 mit Punkt, 1/8, 1/8 mit 1/32 usw. = 1/4 mit Punkt
Hat man sich auf die Art der Modulation – hier das Verhältnis von der kleineren zur größeren Dauer – einstellen können, so wird die Fortsetzung dieser Modulationstype virtuell unwichtig. Deshalb setzt das Hörbare dieser Modulation aus. Zu einem fortgeschrittenen Punkt wird i. allg. dieselbe Reihe wieder hörbar in ihrem zu erwartenden Grad der Modulation, gewissermaßen dass der Zuhörer sich kontrollieren kann, ob seine eigene Einstellung noch stimmt.
Alle Reihen haben untereinander Gemeinsamkeiten. So werden z. B. im Bereich der Pulsation über diese Gemeinsamkeiten verschiedene Reihen vermittelt. Wechselwirkungen zwischen den Schichten werden durch den Prozess der Intermodulation erreicht.
Stuttgart, 30. 4. 73
U: Andreas Aißlinger, 6. 4. 1974, Justus-Liebig-Haus Darmstadt, Institut für neue Musik und Musikerziehung, 28. Hauptarbeitstagung
Opus: 14
Streichtrio נגינה nögináh (hebr. = Betonung) (1984/85) op. 14 - drei Sätze - Dauer 5' - Erbacher Musikverlag
Streichtrio נגינה nögináh (hebr. = Betonung) (1984/85) op. 14
Das Streichtrio נגינה nögináh entstand in den Jahren 1984 und 85 in Leonberg.
Es handelt sich um ein betroffen kurzes Stück,
keine epische Zeit –
6. 7. 1940: erste Flucht eines Auschwitzer Häftlings
kein vitaler Klang,
wieso auch?
6. 1. 1941: erstes Musizieren der künftigen Lagerkapelle
Keine Zeit, kein Klang. Was bleibt, sind nur noch die Betonungen
eines ehedem musikalischen Spiels.
Was für eine Betonung ist das bloß.
Leonberg, 27. 10. 85
U: Karl-Heinz Schulz, Dorothea Glander, Achim Melzer; 13. 12. 1986; Karlsruhe, Badischer Kunstverein, Waldstr. 3, anlässlich der „Tage für neue Musik“ der Staatl. Hochschule für Musik Karlsruhe
Opus: 15
Numeri, Sätze für Piccoloquerflöte [1975], Große Flöte [1975], Altquerflöte in G [1975] und Bassquerflöte [1979] – nacheinander oder gleichzeitig zu spielen – Dauer von mindestens 6’ bis höchstens ungefähr 14’ – Erbacher Musikverlag
Numeri für Altflöte in G, Piccoloquerflöte, Große Flöte (1975) und Bassquerflöte (1979)
nacheinander oder gleichzeitig zu spielen op. 15
Drei Sätze der Numeri, nämlich die für Altflöte, Piccolo und Große Flöte, sind in dieser Reihenfolge 1975 entstanden, der Satz für Bassflöte kam 1979 noch dazu. Alle Sätze der Numeri sind in Ditzingen bei Stuttgart entstanden.
Stationen der Uraufführungen: Gerhard Braun spielte am 7. 3. 1975 im Bonifatiushaus Mannheim, einem Franziskanerkloster, die erste Aufführung, im Programm angekündigt als „Thesen für Altflöte in G“. 1976 fand dann in der Stadthalle von Gerlingen, ebenfalls mit Gerhard Braun, die erste sukzessive Aufführung der nunmehr schon drei Sätze statt – die für Piccolo und Große Flöte hatte ich nach der Mannheimer Aufführung hinzukomponiert – jetzt unter dem neuen Namen Numeri. Die erste simultane Uraufführung inzwischen aller vier Sätze, also auch dem 1979 nachkomponierten Satz für Baßflöte, gab es am 9. 12. 1989 in Schloß Gottesaue, dem Hauptgebäude der Karlsruher Musikhochschule, mit Lucas Robatto (Piccoloquerflöte), Christoph Kieser (Große Flöte), Bärbel Danek (Altflöte in G) und Carsten Hustedt (Baßquerflöte). Weitere Aufführungen in ständig wechselnden Formationen, so als Solo, Duo usw. auch in stets veränderten Schichtungen vertikal und horizontal folgten rasch aufeinander: in Ditzingen am 2. 2. 90, in Gerlingen am 4. 2. 90 und in Pforzheim am 10. 3. 90.
Der Begriff Numeri ist mehrdeutig: Er ist einerseits die in den Plural übersetzte lateinische Vokabel „Zahl“, ferner in der Mathematik die Bezeichnung für Zahlen, auf die der Logarithmus zutrifft, dann auch grammatikalisch die Form, die zur Unterscheidung von Ein- und Mehrzahl dient, weiter in der Musik aufzurechnende Zählzeiten zu Takten, und schließlich der Name des vierten Buches Mose, das mit der Volkszählung beginnt.
Ditzingen, 10. 2. 1975
Leonberg, 13. 3. 1989 und 21. 2. 1993
U: Lucas Robatto (Picc.), Christof Kieser (Fl.), Bärbel Danek (Altfl.), Carsten Hustedt (Bßfl.);
9. 12. 1989; Karlsruhe, Musikhochschule, Schloß Gottesaue, 2. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
Opus: 16
Buch des Lebens für Kammerchor zu vier zweigeteilten Stimmen, ein Gedicht von Leopold Marx (1989) op. 16 – Dauer 3'45" – Erbacher Musikverlag
Buch des Lebens für Kammerchor zu vier zweigeteilten Stimmen (1989)
ein Gedicht von Leopold Marx (1890 – 1983) op. 16
Nach Stéphane Mallarmés Vorstellung ist ein Buch keine feste Form sondern Entwicklung. Seine Sprache kommt nur als elliptische (unvollständige, vorübergehende) Entwicklung voran, so wie sich jeder immer weiter entwickelt aus seiner eigenen Geschichte, auch wenn ihr Verlauf sich noch so verästelt. Mal geht’s zielstrebig vorwärts, mal rückwärts: wie in einem Buch. In ihm enthält die Seite 17 alles, was auf den davor liegenden Seiten gestanden ist. Blättere ich weiter vorwärts, so erfahre ich ständig Neues; blättere ich hingegen rückwärts, so erfahre ich von der Sache her überhaupt nichts Neues, nur: wie’s dazu gekommen ist, Stück um Stück.
Im Buch des Lebens geht die musikalische Sprache ebenfalls elliptisch vor, ihr Klang hat nichts von Endgültigem an sich, ist eher brüchig, facettenhaft, immer nur auf Durchgang eingestellt, auf Wanderschaft, verästelt. Auch dieser Klang entwickelt sich aus seinen ersten Umrissen heraus immer weiter zu seiner eigenen Geschichte. Dabei entsteht ständige Evolution, ein stets neuer Klang, indem sich die Struktur A „Heimat“ als permanente Variation in B wieder findet, B in C, C in D usw. bis E in F „Wenn wir in uns selbst im Fremden sind“. Dies ist der weiteste Punkt vom Beginn. Von da an blättern wir wieder zurück, gelangen also wieder zur „Heimat“ (Struktur A) zurück, ist aber nicht mehr dieselbe „Heimat“ wie zu Beginn, eine neue, durch die Geschichte erfahrene. Leopold Marx’ erste Heimat war Stuttgart-Bad-Cannstadt, seine zweite Shavei-Zion in Israel.
Heimat – An des Erdendaseins Schwelle,
bringt im Blut sie jeder mit – als Kind,
aber sie versinkt, versiegte Quelle,
wenn wir in uns selbst im Fremden sind.
Leonberg, 14. 9. 1989
U: 4. 2. 1990 in Gerlingen: „Das Madrigal“ – Kammerchor Gerlingen, Leitung Johanna Erbacher-Binder; 2. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
Opus: 17
Simul für Klavier, zwei Sinusgeneratoren, Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter (1974/75) op. 17 – Dauer 19’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Simul für Klavier, zwei Sinusgeneratoren Zweiseitenbandmodulator, Regler und Filter (1974/75) op. 17
Simul aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt heißt „zugleich“. Zugleich erklingen in Simul der Klavierton und seine Amplitudenmodulation. In der Regel legen sich bei Verwendung von zwei Sinusgeneratoren um den Klavierton herum zwei Summations- und zwei Differenztöne. Ich bin aber keinesfalls vom einzelnen modulationsfähigen Ton ausgegangen, um für ihn Spektralklänge zu errechnen, die das (verstimmte) Klavier mit Hilfe des Modulators dann doch nicht liefert. Vielmehr habe ich von vornherein mit ganzen Pulks von Tönen operiert, sog. Gruppen. Typisch für Gruppen ist, daß sie i. allg. mindestens ein unverwechselbares Kriterium gemeinsam haben, wie z. B. lauter Töne von gleicher bis ähnlicher Dauer oder in einem Frequenzband sehr hoch usw. Durch Verwendung von Gruppen kann das einzeln modulierte Ergebnis zugunsten des Gruppencharakters vernachlässigt werden. Ist die Gruppe also definiert – und das ist die Dialektik der Methode – so kommt dem einzelnen Klavierton selbst wieder so viel Individualität (wegen der Summations- und Differenztöne) zu, als ob für ihn im Sinn der Gruppe Spektralklänge errechnet worden wären. Dies besagt, daß die Konzeption toleranter geworden ist. Strngr im großen, zugleich Toleranz im Kleinen : Simul.
Stuttgart, 3. 1. 1973
Paestum, Italien, das Forum der besterhaltenen Tempel des klassischen Altertums. Eigenartig: Als ich 1974 zum ersten Mal das Gelände der antiken Tempel betreten habe und als ich dabei den dorischen Poseidontempel im Abendlicht in seiner ganzen Pracht völlig überwältigt aufgenommen hatte, spielte sich in meinem Inneren ein mir bis dahin so von mir noch nie erlebter ungeheurer Vorgang ab: parallel zu diesem Erlebnis hörte ich plötzlich und unvermutet meinen „Simul“, dessen Klang und Gestalt ich während meiner Italienreise längst vergessen glaubte. So stand ich gleichsam fassungslos außer mir und wurde Zeuge, wie zu gleichen Teilen der konkret optische und der memoriert akustische Stoff gleich wahrhaftig miteinander konkurrierten; beide verhielten sich tautologisch zueinander. Seitdem lebt in mir unvergessen meine dort gemachte Erfahrung: Denke ich an (den Apollotempel in) Paestum, so höre ich den „Simul“, höre ich den „Simul“, so denke ich an (den Apollotempel in) Paestum.
Grundlage in jedem Takt: das Gesetz der Fibonacci-Reihe: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 usw., also Fn = Fn-1 + Fn-2 + ...
Außerdem: abschnittsweise „Cassinische Teilungen“: Den Planeten Saturn umgeben riesige Ringe „aus Staubteilchen, Körnern und Brocken, die einzeln und lose um den Planeten als Mini-Monde kreisen und über die Entfernung zusammen wie eine Scheibe wirken. [...] wenn man die Scheibe in stärkerer Vergrößerung betrachtet, sieht man, daß sie in bestimmten Abständen Lücken aufweist. Bestimmte Bereiche wirken wie leergefegt, so besonders die so genannte „Cassinische Teilung“. Es zeigt sich nun, daß diese „Cassinische Teilung“ auch die anderen größeren Lücken des Ringes als „Resonanzzonen“ des Saturnmondes Mimas verstanden werden müssen. Die Teilchen, die in der „Cassinischen Teilung“ vorhanden wären, würden mit genau der halben Umlaufzeit von Mimas fliegen, also gewissermaßen eine Oktave höher.“ (Friedrich Cramer: Chaos und Ordnung, S. 167) = Oktavumschaltungen des Sinusgenerators.
U: Gunther Hauer (Klavier), Walther Erbacher (Live-electronic), 7. 3. 1976, Stadthalle Gerlingen in einer Simultanfassung mit Term (Andreas Aißlinger), Numeri I/II/III (Gerhard Braun); Die Hand (später zurückgezogen; Johanna Binder), Posaunenchor (Armin Rosin)
Opus: 18
Spieltypen für mechanische Orgel (1971) – notiert auf 21 Papierbögen unterschiedlicher Größe [Clusterkomposition] – ca. 6’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Spieltypen für mechanische Orgel (1971) op. 18
Die Spieltypen für mechanische Orgel sind im September 1971 in Stuttgart-Rohracker Dürrbachstraße 95 und in Gerlingen an der Weigle-Orgel der Petruskirche entstanden. Die Idee der Komposition verfolgt folgende Gesichtspunke:
1.) Ein Manual hat in der Regel 56 Tasten. Das sind 56 „Tastenorte“. Diese werden nach dem Bau der Hand und des Unterarms so weit typisiert, dass sämtliche
Möglichkeiten das Spielen von einem Finger bis zu fünf Fingern und dem Unterarm mit ausgestreckter Hand geordnet werden = Spieltypen.
2.) 18 Abschnitte mit jeweils spezifischer Diktion, Registrierung und Länge sind typisiert = Spieltypen.
3.) Der für die Orgel typisch statische Klang soll so weit wie möglich mobil gemacht werden. Mit der Art der Klangerzeugung (variablem Winddruck) wird gespielt = Spieltypen.
4.) Kontrapunktisches Denken ist nicht vorhanden. Komponiert wurde nach Dichteverhältnissen, also nach typisierter Dichte = Spieltypen.
5.) Das Reservoire von 18 Abschnitten = Spieltypen dient dem Organisten als Angebot.
Stuttgart, 10. 9. 1972
U 1: Johanna Erbacher-Binder, 26. 9. 1971, Petruskirche Gerlingen (sic „Gebremste Uraufführung – Der Teufel von Geringen“ von Dieter Kölmel, „Stuttgarter Nachrichten“
1971, Nr. 231)
U 2: Gunther Morche, August 1972, 5e Académie de l’orgue, Saint-Dié (Teil-U)
U 3: Gotthard F. Döring, 21. 10. 1972, Stiftskirche Tübingen (vollständige U)
Opus: 19
Wassermusik Nr. 3 für einen Posaunisten (1973) op. 19 – Dauer 6’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Wassermusik Nr. 3. für einen Posaunisten (1973) op. 19
Übrigens vor mir schrieben meines Wissens noch Wassermusiken: Georg Friedrich Händel und John Cage. Beide sind mir kein Vorbild.
Meine Wassermusik verdankt Name und Konzeption jenem bemerkenswerten Umstand, daß man der Posaune noch zusätzlich dem Speichel des Bläsers Wasser zugießen kann. Wenn man dann spielt, gluckert’s so schön. Auch wenn man durchs Instrument einatmet. Störendes Wasser war früher verpönt. Wen hat schon das Ausatmen ohne Ton, noch viel mehr das Einatmen ohne Ton interessiert? Tonloses Ein- und Ausatmen ist aber dasselbe Atmen wie mit Ton.
Wenn man bislang nur Töne hören wollte, warum soll man nicht Tonloses hören sollen? Der Bläser braucht auch Atemluft, von der man bislang kaum etwas merken sollte. Diese Luft hat er aber auch zum Blasen gebraucht, und da war’s plötzlich recht. Weshalb nicht jeden Atemvorgang hörbar machen und über die ganze Zeit, in der der Bläser mit Posaune-Blasen zu tun hat?
Konstruktiv habe ich Reihen von mathematischer Ordnung erstellt. Je zwei Reihen habe ich so postiert, daß ich ihre kleinste Zahl als Mittelpunkt von konzentrischen Kreisen angesehen habe. Die übrigen Zahlen bilden jeweils Wellenberge. Treffen sich die Kreise zweier Wellenberge, so gibt’s Schnittpunkte: für den Rhythmus und die Tonhöhen.
Stuttgart, 9. 1. 1973
U: Herbert Ferstl, 21. 11. 1978, Universität Karlsruhe, Gaede-Hörsaal, Engesserstraße
Opus: 20
Mimics für Gruppe mit Live-electronic und Großes Orchester; musikalisches Theater (1973/74) op. 20
Gruppe: Frauenst., Fl., Gg., Vc., Klav., tönende Kunstobjekte
Orch.: 2 Fl., 2 Ob., E. H., 2 Klar., Baßkl., 2 Fag., Kfag. / 4 Hr., 3 Trp., 3 Pos., Tu. / sehr großes Schlagwerk / 10, 10, 8, 6, 4 [Circa-Angaben], Streicher – Dauer 10’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Mimics für Gruppe mit Live-electronic und Großes Orchester
musikalisches Theater (1973/74) op. 20
Nichts lieber als Töne ihrer bisherigen Bedeutung berauben. Sie sind dann so köstlich rein, hilflos, bar jeder Verbindung, als hätte man sie im Regen stehen gelassen. Welch fantastisches Material für musikalisches Theater! Man wähnt sich frei vom Ballast überlieferter Zusammenhänge. In der Absicht zu Neuem zu gelangen, indem man sie theatralisiert, wird’s hin und wieder leicht komisch: Altgewohnte Zusammenhänge stellen sich gleichsam durch die Hintertür wieder ein, wenn auch mit völlig disparatem Drumherum. Sie werden mehrdeutig, oft hintersinnig, und das fördert Missverständnisse. Missverständliches neben Eindeutigem macht das Eindeutige oft unglaubwürdig, weil Hintersinniges vermutet. Und bis man’s richtig durchschaut, ist das Stück schon weiter. Das schafft dramatisches Tempo, setzt Vermutungen frei, die sich einlösen, vielleicht sofort, vielleicht gar nicht oder erst später im Stück, oder stückweise. Lächerliches entpuppt sich als Tragisches, Großsprecherisches wird absurd und unbedeutend, Naives mündet in Gescheites oder es bleibt wie’s ist. Jedenfalls endet das Stück in Fis-Dur.
Entstanden in Stuttgart-Rohracker
Ditzingen, 24. 10. 76
Opus: 21
Multipel für Gruppe mit Live-electronic und Großes Orchester (1973) op. 21
Gruppe: Frauenst., Fl., Gg. Vc., Klav. u. tönende Kunstobjekte;
Orch.: 2 Fl., 2 Ob., E. H., 2 Klar., Baßkl., 2 Fag., Kfag. / 4 Hr., 3 Trp., 3 Pos., Tu. / sehr großes Schlagwerk / 10, 10, 8, 6, 4 [Circa-Angaben], Streicher [kompletter Satz] – 30’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Multipel für Gruppe mit Live-electronic und Großes Orchester (1973 op. 21
Multipel ist ein Kompositionsauftrag des Senders RIAS-Berlin.
Am 2. August 1973 begann ich in Stuttgart-Rohracker damit, einen morphologischen Kasten für das Stück zu entwickeln. Er bestimmt sich folgendermaßen: Unabhängig voneinander habe ich je einen Katalog von Spiel- bzw. Klangmöglichkeiten für das Orchester und für die Gruppe erstellt. Beide konzentrieren sich auf sich selbst. So das Orchester auf Klänge, die seine Instrumente ohne technische Mittler erzeugen. So auch die Gruppe, deren Klang-Eigentümlichkeit die live-elektrische Modulation ist. Somit habe ich zwei Klangfelder von unverwechselbarer Charakteristik gewonnen, die trotz x-beliebiger Kombinatorik ihrer Klang-Elemente sich zwar ständig in anderer Gestalt präsentiert, jedoch jede einzelne Kombination für die übrigen steht. Diese eher auf Spaltklang denn als Verschmelzung angelegten Klang-Bereiche im Verlauf immer komplexer zu gestalten, bis zu Überschneidungen, war das Ziel. Jedes Element spiegelt sich in seiner Gegenüberstellung mit seiner Umgebung.
Am 3. August habe ich die Morphologie des Multipels abgeschlossen. In Ginzling/Tirol entstand vom 11. – 13. August die Ausarbeitung und vom 20. – 28. August die Reinschrift, dann wieder in Stuttgart.
Karlsruhe, 30. 8. 1973
U. Gruppe informell (Ltg. Walther Erbacher) und die Studentenphilharmonie Tübingen, Ltg. Norbert Locher, 20. 6. 1974, Stadthalle Sindelfingen, III. Allgemeines Deutsches Musikfest
Opus: 22
Posaunenchor für Blechblasinstrumente (übliche oder auch un..., oder anständige oder auch un..., also demnach fantastische) (1974) op. 22 – mit Zitaten von
Peter Handke
Karl Kraus
Rolf Hochhut
Erich Kästner
mögliche Besetzungen: von einem Spieler bis zu ganzen Völkerstämmen – ca. 15’ – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Posaunenchor für Blechblasinstrumente (übliche oder auch un..., oder anständige oder auch un..., also demnach fantastische) (1974) op. 22
Der Posaunenchor ist für allerlei Polsterlippeninstrumente konzipiert, also Blechblasinstrumente, deren akustisches Material vermittels Trichter- oder Kesselmundstück geblasen wird. Gespielt wird der Posaunenchor entweder von in Posaunenchören allgemein üblichen Instrumenten um den Preis von idiologisiertem schönem Klang oder von fantastischen Eigenbauten mit Wucherungen aus Rohren oder Schläuchen aller Art, Farbe, Länge und Dehnbarkeit bis zu einem riesenhaften Gebläse, das womöglich allerhand Windräder mit Klöppeln und Trommelstöcken (mechanisch) in Bewegung setzt und in dessen Schlauch-geschlinge und -gewaber sich der/die Spieler allmählich durch immer weitere Ausbauten (auf der Bühne) immer mehr verheddern, und das alles um den Preis gewagter und einmaliger Klangbildung von martialischem Gelärme bis zur Erstickung. Wie drollig, wenn sich der Spieler auf einer Bodenmatte mit der ins Riesenhafte wachsenden Musikgeschlingewürgemaschine clownesk zu schaffen macht! Und wenn’s dann gar mehrere Spieler sind, die an ein und derselben Maschine herumpusten, saugen und quietschen, wobei ganze Maschinenteile immer wieder zusammenfallen, andere dagegen sich luftballongleich aufblähen bis sie womöglich platzen und ganze Maschinenteile lahmlegen. Was kann sich da für eine Eigendynamik der Dramatik entwickeln, wenn man es nicht schafft, so manchen schlaffen Schlauch mit bunten Bändern abzubinden oder mit bunten Klebebändern oder sonstwas abzudichten, wodurch das Ungetüm unkontrolliert zu pfeifen, röcheln oder zu schnorcheln beginnt. Das Publikum horcht und gafft.
Vier Zitate aus der Literatur* durch die Mundstücke gesprochen, gesungen, gehaucht, gezischt, gebrummt, gesaugt, geschnalzt und was noch alles ergibt ein komplexes und unwiederholbares Geklinge und Gerausche. In den üblichen Posaunenchören gibt es so etwas nicht. Die Spieler mögen das auch nicht. Sie sind traditionell auf die Ästhetik des klaren Tons getrimmt und kennen für anders klingende Hörstoffe keine Kriterien. Wenn die Lippen, die Zunge, die Zahn- und Kieferstellung, auch der harte und weiche Gaumen ein Wechselspiel mit dem Mundstück beginnen zwischen gezielten Sprachklängen und linguistisch erfassten Bewegungen, finden sich i. allg. die Spieler von Posaunenchören und Harmoniekapellen nicht mehr zurecht. Ihre Art der Tonerzeugung ist der Tradition Blech zu blasen verschrieben, so wie man’s schon seit der Renaissance getan hat, wo das chörige Spiel von Instrumentenfamilien in allen Größen angefangen hat, und wo die Posaunenchöre wurzeln. Ihr prächtiger Klang, stets einheitlich und dynamisch terrassiert, wurde damals als fürstlich empfunden. Man blieb bis heute bei dieser Tradition und bläst mit dem Mundstück die Teiltöne möglichst schön. Was denn sonst? Dagegen Sprache durchs Mundstück zu schicken wie in meinem Posaunenchor ist nicht ihre Sache. Da könnte man ja gleich singen! Doch die Geschichte greift in diesem Fall noch weiter zurück als die Tradition. Mein Posaunenchor knüpft an die 2000 Jahre zurück liegende jüdische Singepraxis im synagogalen Gottesdienst. Zwar besitzen wir aus dieser Zeit keine Originalmusik, doch besitzen wir das Wissen, dass das Musikmachen nur als kantillierender Vortrag möglich war, also nur in Verbindung mit dem Wort, genauer mit Gottes Wort, dem Wortlaut der Tora oder dem des Talmud, oder ausgelegt mit „anderen Worten“ z. B. vom Chasan (dem Sänger im Kult) ohne Instrumentalbegleitung. In meinem Posaunenchor kommen zwar Instrumental-klänge vor, nicht aber als Begleitung einer Liedmelodie, sondern immer genuin zum Hervorbringen von Sprachklängen. So sind es in meinem Posaunenchor die Sprachklänge, die Zitate, und ihre Phoneme, die den Klang antreiben. Die Zitate in meinem Posaunenchor sind zwar keine „göttlichen“, doch Zitate von aktuellem Wert, sei’s zur Reflexion unseres Egos, sei’s zur Moral der Politik. Ich schicke die Sprache unmittelbar durchs Mundstück. Ist der Posaunenchor ein Sprachrohr?
Der Posaunenchor ist am 12. und 13. August 1974 in Stuttgart-Rohracker zu Papier gebracht.
Stuttgart, 29. 8. 1974
Leonberg, 27. 3. 2004
*Die Zitate
Peter Handke, aus „Die verkehrte Welt“: Ich horche nicht auf die Geräusche, sondern die Geräusche horchen auf mich!
Seltsame Dialektik:
„Aufgestanden liege ich da:
Ich schlage die Augen nicht auf, sondern die Augen schlagen mich auf;
Ich horche nicht auf die Geräusche, sondern die Geräusche horchen auf mich;
Ich schlucke das Wasser nicht, sondern das Wasser schluckt mich;
Ich greife nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände greifen mich an;
Ich entledige mich nicht der Kleider, sondern die Kleider entledigen sich meiner
Ich rede mir nicht Wörter ein, sondern Wörter reden mich mir aus;
Ich gehe zur Tür, und die Klinke drückt mich nieder.
Die Rollbalken werden hinaufgelassen, und es wird Nacht, und um
nach Luft zu schnappen, tauche ich unters Wasser: ...“
Ich will leben!
Karl Kraus, aus „Sittlichkeit und Kriminalität“, Die Kinderfreunde: Es haben sich in mir unnatürliche Vorstellungen gebildet.
„Ich dachte mir: Es ist unmöglich, was er mir gesagt hat, das kann nicht sein,
das kommt nur bei ordinären Leuten vor: Es haben sich in mir unnatürliche Vorstellungen gebildet“.
Rolf Hochhut, aus dem „Stellvertreter“ der Kardinal: Es wurde ja gehandelt!
Der kürzeste jüdische Witz: „Au! – [sch:] - - - Witz“
Der typisch jüdische Witz ist von tragisch-schwermütiger Grundhaltung. Seine Wirkung
basiert auf stringenter Logik, die an entscheidender Stelle die Handlung unbemerkt mit einem
tragischen Element bricht. Warum verebbt im Gas von Auschwitz der allerletzte Aufschrei?
Weil danach alle schweigen, die Vergasten, ihre Mörder (denn unerkannt lebt sich’s besser)
und die Welt (denn nichts wissen wollend lebt sich’s auch viel besser. Doch einer, der Papst
Pius XII., hat’s angeblich gemerkt und will angeblich gehandelt haben, nur: keiner hat’s
gemerkt!). So sagt keiner etwas. [sch:]! Nichts gehört! Halt bloß den Mund, auch wenn ...!
[sch:]! Die tragische Brechung: Sowie auch nur der kleinste Laut vom Aufschrei ruchbar wird,
hallt der Aufschrei gleich einem gewaltigen Donnergrollen in unzähligen Echos auf! Deshalb
– ich beschwöre Dich: halt den Mund! [sch:]!, sonst wird’s richtig laut!
Erich Kästner, aus dem „Weihnachtslied, chemisch gereinigt“: Reiche haben Armut gern.
Marktanalyse:
Der Kunde zur Gemüsefrau: „Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst
Jünger?“
Die Gemüsefrau zum Kunden: „Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische
Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.“
zweiter Text:
Posaunenchor für Blechblasinstrumente (übliche oder auch un..., oder anständige oder auch un..., also demnach fantastische); mögliche Besetzungen: von einem Spieler bis zu ganzen Völkerstämmen (1974) op. 22
Schon wieder ein bösartiges, niederträchtiges Stück! Purer Zynismus, wenn die da oben bloß noch stammeln, statt daß sie ihre Instrumente anständig spielen, wie man’s schließlich von einem Posaunenchor erwarten kann! Und das wollen Musiker sein, und überhaupt und so! Lob’ ich mir doch die Laien, bei denen stimmt wenigstens die Einstellung.
Mit der Besetzung des Posaunenchors könnte man freilich
Choräle sehr schön und ausdrucksvoll blasen, so recht eng angelehnt an den „missionarischen Gedanken“, denn da rechtfertigt der Erfolg die angepassten Mittel
Mit der Besetzung des Posaunenchors könnte man freilich
erprobte musikalische Formeln auf ein Neues wiederholen, weil sie mittlerweile dem Konsumverhalten und damit dem unbemerkten Verschleiß unterliegen. Vielleicht findet sich ein „Evergreen“ darunter?
Mit der Besetzung des Posaunenchors könnte man freilich
sich endlich den Segnungen wahrer Modernität und wahren Fortschritts, wie sie uns in der Unterhaltungsmusik unablässig angepriesen werden, verbünden. Der Gefahr, daß etwas umso überzeugender gerät, je anspruchsloser es gemacht wird, wird sich niemand aussetzen müssen.
Übrigens ... ungetrübte Erbauung bei gar nicht hoffnungsfroher Musik wünscht
Walther Erbacher
P. s.: Achten Sie doch bitte auf die Texte:
Peter Handke: Ich horche nicht auf die Geräusche, sondern die Geräusche horchen auf mich!
Karl Kraus: Es haben sich in mir unnatürliche Vorstellungen gebildet.
Rolf Hochhut: Es wurde ja gehandelt! (Der Stellvertreter)
Erich Kästner: Reiche haben Armut gern.
U: Armin Rosin, 7. 3. 1976, Stadthalle Gerlingen, in einer Simultanfassung mit dem Term op. 13 (Andreas Aißlinger, Numeri I/II/III op. 15 (Gerhard Braun), Die Hand op. 23 (später zurückgezogen; Johanna Binder), Retro op. 24a (Gunther Hauer)
Opus: 23
jad/niguním, Stimmen hören, für Opernensemble (1989) op. 23 - 19 Stücke für 19 verschiedene Rollenfächer, erheblich zeitversetzt in Kostümen auf einer Bühne spielend vorzutragen – Dauer mindestens 5’ und höchstens? – Auswahl der Stücke ist möglich, freie Zusammenstellung – Erbacher Musikverlag
jad/nigúnim
Stimmen hören
für Opernensemble (1989)
19 Stücke für 19 verschiedene Rollenfächer
erheblich zeitversetzt in Kostümen auf einer Bühne spielend vorzutragen op. 23
Die älteste nur für eine einzige Sängerin bestimmte Fassung reicht bis ins Ende der 60er Jahre. Sie hieß Die Hand. Titel und Text stammten von Ingeborg Bachmann. Dieses Stück habe ich zurückgezogen. 1989 entstand eine völlige Neukomposition mit dem Titel jad/niguním. Jad ist eine hebräische Vokabel und hat im Deutschen zwei Bedeutungen: zum einen Hand, zum anderen Denkmal oder Mahnmal. nigún ist ebenfalls hebräisch und bedeutet soviel wie Melodie, melodischer Akzent.
Alle jüdischen Melodien, insbesondere die vom Wort bestimmten liturgischen, werden als niguním bezeichnet. Im engeren Sinn jedoch sind niguním auf archetypischen Wendungen beruhende Weisen, die typisch für das jüdische Melos sind und textlos nur als Vokalisen gesungen werden. Die jüngeren niguním durchmischen diesen orientalischen Charakter mit den chassidischen Melodien des europäischen Ostens. Diese Melodien wanderten mit den in alle Welt verstreuten Chassidím. In der Instrumentalmusik des Stetls sind sie bekannt unter Klezmer.
Soweit die übliche Bestimmung des nigún. Nun zu meiner eigenen Standortbestimmung: Als Goj, als Nichtjude, meine ich kein Recht zu haben, die niguním nachzuahmen. Das gilt weder für ein Nachmachen von niguním mit religiös-orthodoxer Überlieferung auf Texte aus der Tora, noch gilt dies für das Nachmachen von textlosen niguním, auch wenn sie an tradiertes jüdisches Melos noch so sehr erinnern mögen. Alles das wäre von mir nur aufgesetzt. Mir fehlt die aus Kindertagen erlebte echte Beziehung dazu. Die Originalmusik wird mir wahrscheinlich, auch wenn ich mich noch so sehr um sie bemühte, letztendlich immer fremd bleiben. Jedoch lasse ich es mir nicht nehmen, in freier mir eigener Weise ein Denkmal zu setzen als Zeichen meiner Bewunderung für eine große leidvolle und dabei auch oft so fröhliche Kultur, mahnend, jad (Mahnmal).
Was mich in den Bann des nigún geschlagen hat, und was meine Musik substanziell mit dem originalen nigún zu tun haben soll, kann ich letztendlich nicht erklären. Ich kann seine Sinn- und Namensadaption nicht rechtfertigen. Ich bin nur einem inneren Drang gefolgt, den ich, so weit ich mich erinnere, als besonders beglückend empfunden habe. Vielleicht war’s der Umgang mit der Singstimme, doch ohne an einen Text gebunden zu sein – etwas aus der europäischen Tradition Unbekanntes, weil semantisch nicht ausschlachtbar? War das die von mir gesuchte Direktheit der Musik, die alle Möglichkeiten der Kombination offen lässt, indem alles mit allem verknüpft werden kann? Ich weiß noch, wie mich diese grenzenlose Vielfalt des Zusammenspiels gefesselt hat, welche Vielfalt an Inszenierungen ich mir vorzustellen wagte. Mich bewegte das Zusammenspiel von Sängerpersönlichkeit und Stückvorlage, die wirklich nur stückhaft sein kann, nur anregen will. So gibt erst die Aufführung preis, wohin diese Musik von Fall zu Fall treibt, die Fantasie sich Bahn bricht: Stimmen hören.
Leonberg, 31. 3. 1989
Opus: 24
Retro op. 24 – ehem. Musikverlag Gotthard F. Döring, jetzt Erbacher Musikverlag
Retro für Klavier (1975/76) op. 24a – 10’
Retro für zwei Klaviere (1976) op. 24b – 10’
Retro für Klavier, Marimbaphon und Xylophon (1976) op. 24c – 10’
Retro für zwei Klaviere, Marimbaphon und Xylophon (1976) op. 24d – 10’
Retro für Klavier (1975/76 op. 24 a
Retro für zwei Klaviere (1976) op. 24 b
Retro für Klavier, Marimba- und Xylophon (1976) op. 24 c
Retro für zwei Klaviere, Marimba- und Xylophon (1976) op. 24 d
Retro entstand um die Jahreswende 1975/76 in Ditzingen.
Retro kehrt um, verlässt die Bewegung und – erstarrt. Es schmückt sich mit den Insignien der bürgerlichen Epoche und ist so tot wie etwas nur tot sein kann, wenn es sich nicht mehr bewegt. – Aber es ist vielleicht noch schön! Eine schöne Leich! – Selbst vorgetäuschte Mobilität der offenen Form bremst Verwesung nicht, weil Alternativen unhörbar bleiben, nicht ins Bewußtsein gelangen. Lächerliche Betulichkeit tritt an die Stelle tatsächlicher Bewegung. Auch der Klang hat von diesem Geist. Ihm widerfährt Starrheit. Längst vorgeformtes, abgegriffenes Material wiederholt sich ständig, „... und macht nur so weiter!“ ... Ein beängstigend böses Stück, wenn’s nicht doch die Verhältnisse einer retrospektiven Ästhetik wären, die von verlogener Geborgenheit künden. Sicherlich tut’s kaum jemandem weh. Das ist es ja gerad’ – Retro grad!
Ditzingen, 24. 10. 1976
... zur Situation von Retro, jedenfalls mal damals
Retro sagt: nach rückwärts gerichtet. Oder alles, was nach rückwärts gerichtet ist, ist retro. Mein Retro – und so viel wissen wir jetzt –, ist wie alles, was retro ist und Retro heißt, Programm. Solche rückwärts gerichteten Programme sind perfide. Sie sind im Strom allgemeinen Fortschreitens – die Welt prozediert und ist nicht nur – eine Provokation. In musikalischen Retros hört man nur Rückwärtsgewandtes. Rückwärtsgewandtes zu hören ist überflüssig. Verstörend daran ist, dass nichts Neues kommt. Manche Komponisten arbeiten sogar dafür. Und sie sagen: Die Zeit für Neues ist vorbei. Ja, so sagen sie wirklich! Und sie fügen dem Neuen außer einem Nichts nichts hinzu. Entweder man kennt das Vergangene oder auch nicht oder man wiegt sich in Wohlgefallen oder auch nicht.
Mein Retro ist das schlechteste Stück, das ich je gemacht habe. Wir hören in ihm lauter Scheinzitate, die die wahren Absichten der Originalkomponisten verfälschen und wogegen sich die Originalkomponisten nicht (mehr) wehren können. Was wir hören, ist also lauter überflüssiges Zeug. Oft wird dieses Zeug in Massen produziert wie im Retro. Retro hält den Leuten den Spiegel vor, wie’s der Till Eulenspiegel gemacht hat. Eigentlich ist Retro so etwas wie eine Publikumsbeschimpfung, wo sich das Publikum mit seinen eigenen Mitteln selber beschimpft. Die Abgründe werden, je länger die Beschimpfung anhält, als immer tiefer und lächerlicher wahrgenommen. Daran ändert sich nichts ob als Retro für nur ein Klavier oder für zwei Klaviere, ob als Retro für Klavier, Marimbaphon und Xylophon oder als Retro für gleich zwei Klaviere, Marimbaphon und Xylophon.
Leonberg 16. 1. 2018
... und die postmodernen 80er Jahre sind dann halt doch gekommen!
U Retro für Klavier op. 24a: Gunther Hauer, 7. 3. 1976, Stadthalle Gerlingen in einer Simultanfassung mit dem Term op. 13 (Andreas Aißlinger, Numeri I/II/III op. 15 (Gerhard Braun), Die Hand op. 23 (später zurückgezogen; Johanna Binder), Posaunenchor op. 22 (Armin Rosin)
U der alleinigen Fassung: Ursula Henrietta Euteneuer, 2. 11. 1978, Saal der Staatlichen Hoch-schule für Musik Karlsruhe, Saal, Jahnstr. 18, Tage für neue Musik ’78
U Retro für zwei Klaviere op. 24b: Ursula Henrietta Euteneuer und Cornelia Gengenbach, 2. 11. 1978, Saal der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe, Saal, Jahnstr. 18, Tage für neue Musik ’78
U Retro für Klavier, Marimba- und Xylophon op. 24c: Ursula Henrietta Euteneuer (Klavier) und Manfred Rohrer (Marimba- und Xylophon), 19. 11. 1979, Saal der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe, Saal, Jahnstr. 18, Tage für neue Musik ’78
Opus: 25
Bläserquintett in zwei Abteilungen für Flöte, Oboe, Klarinette (B), Horn und Fagott (1976; 84/85) op. 25 – Dauer um die 20’ – Erbacher Musikverlag
Bläserquintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott (1976; 84/85) op. 25
:) vollkomm’richitich :Klang(selbst)beschränktheit (nämlich mengenmäßig (oder
mengenmassig) auf 5tiert Erblasenes (diesmal also & nur d i e s e s Mal :keine.grässliche
Zusammnrottung von zur Gewalt neigendem Orchestergeklinge!). So also nur Kammermusik,
filigran, mit alläm, was sonst noch (fast) unhörbar mitklingt. Was meint Ihr dän :muß man da
hinhörn? - Hörste Stimmn? Ei du kleiner Schlittzie! - - ’ne fraktale Komposition, ja wirklich, die 1.
’s sind 5 Variation’n (in der 1. Abteilung), wobei die Abfolge der Instrumentation in jeder
Variation unverändert bleibt ... Dann (in der 2. Abteilung) bis zur Nekrobiose (= laangsames
Abstärbn einzellner Zelln); & das alläs ca. 20 Minutn lang.
(Wer kennt schon Arno Schmidt?!)
Entstandn in Ditzingen, Wilhelmstraße siebzehn, und Leonberg, Hölderlin(!)straße sexundzwanzich (:
Monte Leonis, 9. 4. 1992
U der ersten Abteilung: Syrinx-Quintett, 8. 2. 1983, Saal der Staatlichen Hochschule für Musik Karlsruhe, Saal, Jahnstr. 18
Opus: 26
Vier gemischte Chöre (S/A/T/B, jede Stimme zwiegeteilt) (1976) op. 26 –
Rot wie Feuer,
Blau wie Wasser,
Braun wie Erde,
Weiß wie Luft –
evtl. mit Farbprojektionen oder Farbfilm(en) (rot, blau, braun, weiß) – Dauer 11' – Erbacher Musikverlag
Vier gemischte Chöre
Zu je vier Doppelstimmen (1976/97) op. 26
Rot wie Feuer
Blau wie Wasser
Braun wie Erde
Weiß wie Luft
( : we’cher Hals ! We’che Stim-
me ! (Der eine voll, die andre
rau : kein Zug mehr wie frü-
her , aber noch gans dasselbe
Gesicht ...)
Arno Schmidt :Zettels Traum
- zettel 4 –
:) ob’s lallend leicht bis s(chw)ehr unterkief(er)t – oder ob’s halt überhaupt nicht hallt oder lallt oder ob sonst was ... ( oder ob’s ganz&gar ohne Hall&Lall unterkieft, manchmal leicht &dann&da&dort schon mal s(chw)ehr ! ) – gradmäulig oder schräg, ’sMaul aufgerissn oder (endlich mal!) zu ... Was meint I h r dänn: kann man da weghörn!? &’immer sin’da die typischn Klangfarb- oder Farbklang-nuancn. Welch vielfache „a“-s stehn für Feuer, wie viele „u“-s für Wasser, „o“-s für Erde & „i“-s für Luft. Was meinsDu : KannsDu die Farbn sehn ? - mußDu gerade deshalb zuhörn ? Gäll, dasis Synästhesie ! Jaja, dasis 1 MitReizEmpfindung so phon dem 1 TonSinnes-Organ quer rüber zum andern SinnesOrgan ..., wie wa(h)r? Achja, guck mal wieder inDichhinein. – MeinsDu etwa :Phonismen ? Also guck doch mal, wasDu hörst !
Jedm der 4 Chor-Stücke liegt je 1 Grundfarbe von Klang vor. Wills’De ma’ erlebn wie das wirkt? So solln sie’s doch zusammn mit Farb(film)projektion’n aufführn, dann merks'De noch phil mehr. Dann wird's so richtich bunt.
Alläs entstandn am 10.&11. August 76 in Ditzingen bei Stuttgart.
Leonberg, 17. 10. 94
Zu den Vier Gemischten Chören op. 26
Der Große Brockhaus, Leipzig 1934:
Synästhesie [grch. synaisthesis], Mitempfindung, das Auftreten von Empfindungen in einem Sinnesorgan, wenn ein anderes erregt wird. So fühlt man einen Kitzel in der Nase, wenn man in grelles Licht sieht, oder man hat bei Reizung des äußeren Gehörganges ähnl. Empfindungen im Kehlkopf, die sich bis zum Hustenreiz steigern können. Sehr bekannt ist das unangenehme stumpfe Gefühl in den Zähnen beim Anhören schriller Töne. Die Grundlage dieser Erscheinungen ist nur z. T. bekannt; man kann in einigen Fällen periphere Nervenverbindungen dafür verantwortlich machen (Gehörgang – Kehlkopf), auch mangelhafte Isolierung nebeneinander verlaufender Nervenbahnen ist zur Erklärung herangezogen worden. Ist die sekundäre Empfindung optisch, so spricht man von Synopsien oder Photismen, ist sie akustisch, von Phonismen. Sie werden bei vielen Personen durch akustische Reize ausgelöst (Farbenhören, Audition coloré, sic Farblichtmusik), sind selten aber so deutlich, daß mit bestimmten Tönen oder Vokalen unbedingt gesetzmäßig bestimmte Farben erscheinen. Diese Photismen beruhen auf rein zentralen (im Großhirn) zustande kommenden Assoziationen. Zu ihnen wird auch die Erscheinung gerechnet, daß die Belichtung eines Auges ein Nachbild im unbelichteten andern hervorruft.
G. Anschütz: Das Farben-Problem im psychischen Gesamtbereich (1929)
Farblichtmusik, Farbenmusik, die künstlicher Verbindung von Farbe und Musik, wird herzustellen versucht, indem ,am parallel zu einer musikal. Komposition eine künstlerisch bestimmte Folge von farbigen Lichtern erscheinen läßt, die den seelisch-geistigen Gehalt, die Formen und die Klänge des Musikstückes gleichzeitig sichtbar darstellen sollen. Die physikal. Zusammenhänge von Licht und Ton hat schon Newton untersucht, und die Tatsache, daß sich bei manchen Menschen parallel zu Toneindrücken Farbvorstellungen entwickeln (auch umgekehrt: der opt. Eindruck ruft einen akustischen hervor), hat schon Anfang des 18. Jh. zu Versuchen geführt, die Gleichheit bestimmter Ton- und Farbskalen nachzuweisen. Die große Verschiedenheit der Ergebnisse zeigt aber, daß die Gleichsetzung von Tönen mit Farben auf durchaus individuellen Voraussetzungen beruht. Allg. gültige Normen haben sich bisher nicht aufstellen lassen. Trotzdem hat es in neuester Zeit nicht an Versuchen einer Verbindung von Musik und gleichzeitigen Farbenerscheinungen gefehlt. Der russ. Komp. Alexandr Skrjabin erstrebte in seinem „Prometheus“ (1913) eine Steigerung des musikal. Geschehens dadurch, daß gleichzeitig mit der Musik auf Leinwand Farben durch ein Farbenklavier (Lichtklavier, Clavier à lumière) projiziert werden. Ein verwickeltes System einer Farblichtmusik hat der ungar. Musiker Alexander László ausgearbeitet. Das Wesen dieser F. (Präludium für Klavier und Farblicht, 1926) besteht darin, in paralleler Darstellung mit einem Musikstück eine Folge abstrakter, ungegenständlicher bewegter Farbbilder zu zeigen. Diesem Zweck dient ein von László konstruiertes Farblichtklavier mit einer eigens dafür erfundenen Farblichtnotenschrift. László hat ferner eine ausgebildete Kompositionslehre für F. geschaffen (Harmonielehre, Kontrapunkt, Rhythmik und Dynamik). – Unabhängig von diesen Bestrebungen will Adolf Lapp (*1888) mit seiner Farbenorgel Kompositionen für absolute Farben geben, die frei von Musik und Wort ihre selbständigen Ausdruckswerte gestalten.
Alexander László: Die Farblichtmusik (1925); Alexander László: Einführung in die Farblichtmusik (1926)
Opus: 27
Kultur-Chöre für Frauenstimme, Flöte, zwei Geigen, Gitarre, Klavier, kleine Trommel und Vibraphon (1978/79) op. 27 – 9 Sätze, 4 davon vokal:
חמס chamas (= Gewalt),
אבל ewäl (= Trauer),
דומה dumah (= Stille, Totenreich),
שדמה schödemah (= bebautes Land) –
23’ 15" – Erbacher Musikverlag
Die Kultur-Chöre sind in den Jahren 1978/79 in Ditzingen bei Stuttgart entstanden. Sie sind meinem Vater zu seinem 70. Geburtstag gewidmet.
Die neun Sätze enthalten vier Vokalstücke. Ihre Texte:
חמס (chamas = Gewalt): Habakuk, 1, 2 und 3: Wie lange rufe ich, Herr, und du hörst nicht! Schrei ich zu dir über Gewalt und du kommst nicht zu Hilfe! Warum lässest du mich Unrecht sehen und siehst dem Unheil zu? – Meine Gedanken und Empfindungen führen mich unter anderem nach Buchenwald ...
אבל (ewäl = Trauer): Nahum 3, 3: Erschlagene in Haufen und Tote die Menge! Der Leichen kein Ende; man strauchelt über die Leiber. – Aus Auschwitz-Birkenau fahren die Züge leer zurück ...
דומה (dumah = Stille, Totenreich): Hiob 7, 7 – 9: Gedenke, daß mein Leben nur ein Hauch ist! Nie wieder erschaut mein Auge das Glück. Nicht wird mich sehen, wer nach mir blickt; dein Auge sucht mich, doch ich bin nicht mehr. Die Wolke entschwindet und geht dahin; so kommt nicht herauf, wer ins Totenreich stieg. – Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!
שדמה (schödämah = bebautes land) Jesaja 1, 15 – 17: Eure Hände sind voll Blutschuld! Waschet, reiniget euch! Schafft mir eure bösen Taten aus den Augen! Hört auf, Böses zu tun! Lernt Gutes tun! Trachtet nach Recht! Weiset in Schranken den Gewalttätigen! – Aus dem Schwur der Häftlinge von Buchenwald: „Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Dies sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“
Ditzingen, 30. 3. 1979
U von חמס (chamas = Gewalt) mit Johanna Binder (Stimme), Stephan Betz (Gitarre), Kristina Neeb-Knappe (Flöte), Helmuth H.-R. Bieler-Wendt und Hilmar Sundermann (Geige); Musikhochschule Karlsruhe, 4. 11. 1978, Tage für Neue Musik ‚78, Jahnstr. 18, Saal.
Gesamt-U mit der Gruppe informell und deren Mitglieder: Johanna Binder (Stimme), Manfred Rohrer (Flöte und Schlaginstrumente), Stephan Betz (Gitarre), Ursula Euteneuer-Rohrer (Klavier), Helmuth H.-R. Bieler-Wendt und Hilmar Sundermann (Geige) Werner Pfaff (Leitung); 19. 11. 1980, Jugendmusikschule Ditzingen, evang. Gemeindehaus
Opus: 28
משמים mischamajim (hebr., dt. vom Himmel) (1980 - 82) op. 28 – Ein Orchesterzyklus mit den Sätzen
רנה rinah (hebr., dt. fröhlicher Gesang) (1981) für Orchester op. 28/I: Fl., Altfl., 2 Ob., (2. auch E. H.), Kl.,
Baßkl., Fag. / Hr., 2 Trp., Tu. / Pk., kl. Tr., 2 Bk., 2 Tamt., Glsp., Röhrgl., Mar., Cel., Klav., Git., Hf. /
4 Br., 2 Vc. – 10’
נהי nöhi (hebr., dt. Trauergesang) (1981/82) für Großes Orchester op. 28/V: 2 Fl., Altfl.; 2 Ob., E. H.; 4 Kl.;
4 Fag. / 4 Hr., 4 Trp., 4 Pos., Tu. / 7 Gongs, 7 Tamt., außerordentlich viele tonlose Schlaginstr. /
7 [21] Gg. 4 [12] Br., 3 [9] Vc. – 28’
הודיה hodaijah (hebräisch, dt. Dankgebet) (1981/82) für Orchester op. 28/VII: 2 Fl., Altfl.; Ob., E. H. /
2 Hr., 2 Trp. / 2 Bk., 2 Tamt., Glsp., Röhrgl., Marimba. (2 Spieler), 2 Vibra., Hf., Cel., Git. / 4 Br.,
2 Vc. – 9’
alle im Erbacher Musikverlag
משמים mischamajim (= vom Himmel) (1980 - 82) op. 28 ist ein Orchesterzyklus mit drei von sieben geplanten Sätzen: רנה rinah (fröhlicher Gesang), נהי nöhi (Trauergesang) und הודיה hodaijah (Dankgebet).
*
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רנה rinah (fröhlicher Gesang, Gebet) op. 28/III ist 1980/81 in Leonberg entstanden und ist das dritte Stück des geplanten (aber dann doch nicht ausgeführten) siebensätzigen Zyklus משמים mischamajim (dt. vom Himmel).
*
נהי nöhi (Trauergesang) op. 28/V ist 1981/82 in Leonberg entstanden. נהי nöhi ist das fünfte Stück des geplanten (aber dann doch nicht ausgeführten) siebensätzigen Zyklus משמים mischamajim (dt. vom Himmel).
נהי nöhi ist nur ein einziger Klang. Der weitet sich zwar und zieht sich wieder zusammen, aber er bewegt sich dennoch nicht, weder innerlich noch äußerlich. Der Klang ist vollkommen modal. Also schreitet er nicht fort. נהי nöhi ist, wo man sich in seinem Ablauf auch befindet, bei allem Widerspruch scheinbaren Fortschreitens immer doch nur Zustand, im Moment, jetzt, oder auch immer. נהי nöhi ist kein Prozess, auch wenn im Verlauf die zunehmende oder abnehmende Dichte in Struktur und Klang dagegensprechen. נהי nöhi i s t . נהי nöhi ist (k)ein seltsamer Fall.
nöhi gründet auf der Zweizahl: die Teile I bis VII und die Teile VIII bis XII. Ihre Proportion wird erlebt wie so etwas Ähnliches wie der Goldene Schnitt, demzufolge der formale Ablauf einer Aufführung als nicht nur zwiegeteilt sondern als explizit hälftig (nach)erlebt wird. Jeder Teil enthält zwei Strukturen: ein zeitlich gedehnter schwer fasslicher glockenähnlicher Klang im Zusammenwirken mit tiefen Tamtams und Gongs - Glocken haben nun mal die Tendenz zum Ausschwingen - und als zweite Struktur ein nadelstichartiger kurzer Abschlag. Die Weitung erfolgt von Teil zu Teil progressiv bis zu sieben glockenähnlichen aufeinanderfolgenden Klängen mit ebensovielen an Zahl zunehmenden kurzen Abschlägen und einer Zunahme von Komplexität beginnend mit zunächst einem Ensemble anwachsend bis zu sieben verschiedenen Ensembles von teilweiser Gleichzeitigkeit. Jedes Ensemble wird dominiert von einem Trommler. Jeder Trommler gibt seinem Ensemble ein gleichmäßig pulsierendes Metrum vor. Zur Zeit der größten Dichte liegen bis zu sieben Metren übereinander (so als ob sieben Metronome gleich pulsierten, unterschiedlich geringfügig zeitversetzt). Jedes Ensemble hat seinen eigenen Klang. Der Klang der Ensembles mischt sich. Die Komplexität nimmt bis Teil VII unaufhaltsam zu. Ab Teil VIII kehren sich die Verhältnisse um: das Stück zieht sich zusammen. Zuerst noch die chaotisch wirkende Dichte mit fast unübersichtlich viel Schlagwerk, und dem Klang aller Ensembles, dann immer weniger von Allem, weniger Ensembles, weniger Glockenklänge, weniger Instrumente, immer leiser bis zu einem einzigen jetzt nur noch ganz leisen Ton, dem b, so etwas Ähnlichem wie ein erlebter Zentralton.
*
הודיה hodaijah (Dankgebet) op. 28/VII ist in den Jahren 1981 und 82 in Ditzingen und Leonberg entstanden. Es ist das siebte Stück des einst geplanten (aber dann doch nicht ausgeführten) siebensätzigen Zyklus משמים mischamajim (dt. vom Himmel).
Opus: 29
Porträts, Sätze für Oboe, Oboe d’amore, Englisch Horn und Fagott (1989) op. 29 – gleichzeitig, auch zeitversetzt oder nacheinander zu spielen – Dauer etwa 14’ – Erbacher Musikverlag
Porträts
Sätze für Oboe, Oboe d’amore, Englischhorn und Fagott
gleichzeitig, auch zeitversetzt oder nacheinander zu spielen (1989) op. 29
:) Sie sind nach’nander oder gleichzeitich zu spieln; sogar jedäs Mal (wännirgendmöglich) in andrer Zusammnstellung :so als Duo, Trio ... & in variablen Einsatzabständn (... dänn wozu schonn in immer derselbn (& vollkommn altmodischen) Art Musik zu vergegnwärtign (gell, Du kleiner Schlingl(!)), das is doch nix andres als modisches vollkommn Altes in die Jetztzeit zu überführn, also zu ’präsentieren’ oder ’präsenzieren’ (wie wa(h)r?!) – nix da mit ’imperfektieren’ [und Milva hüstelte daraufhin ach gar allzu kokett : ’plusquamperfektieren’ – und sie spitzte dabei ihr süßes Schmollmündchen]) Da gibt’s nix andräs als sich an Bewegliches zu gewöhn’n.
Porträts für Doppelrohrblattsinstrumente :’S sind ganz diffizile Stücke, so mit ner Menge instabiler und multiphonischer (nach Filolognauskunft :vielklangiger) Klänge ;nicht auf jedm Instrument ausführbar & nicht auf jedm Instrument ansprechbar (oder ansprechend ausführbar). (Also doch :phielklangig!). Was für Zu- und Ab-phälle! Und wie sich die Spieler mühn! Was meint ihr dänn :muß man da hinhörn? Oder langt’s auch nur zuzusehn, wie sich 1 als Person oder wie sich 1 als Spieler oder 1 als spielende Persönlichkeit oder (als ... &nicht doch als ... aber als ...) ins (Bühnen-)Bild setzt?! Genießn wirs also, wies uns gelingt, diese Typn zu porträtiern!
Entstandn im Frühling 1989 in Leonberg
Leonberg, 22. 5. 1992
U: Marcus Kappis, Isabelle Cholette, Sarah Roper, Andreas Groll, 19. 1. 1993, Theater im Spitalhof Leonberg: 3. Tonkünstlerfest von Baden-Württemberg
U als Duo für Englischhorn und Fagott: Sarah Roper und Andreas Groll, Ditzingen 4. 2. 1993 im Bürgersaal, 3. Tonkünstlerfest von Baden-Württemberg
Opus: 30
Szenario für spielende Sänger auf Gedichte von Dirk Mende, die hinwiderum entstanden nach köstlichen Zeichnungen von Jochen Wahl, und gleichzeitig aufzuführen sind (1989) op. 30
Zwiefach überknixt
Fettlings Drüberbein
Die Rübe und das Faß
Wieder nix
– Dauer etwa 14’ – Erbacher Musikverlag
Szenario für spielende Sänger (1989) op. 30
Zwiefach überknixt
Fettlings Drüberbein
Die Rübe und das Faß
Wieder nix
Da krabbelt’s auf einer Bockleiter rauf und runter, virtuos bis gewagt, sogar innen – hängend; hockt schließlich oben. Hat auf alles draufgeschlagen, was irgendwie tönt. Jemand anderes treibt’s mit einem Fass: rugelt in ihm über die Bühne, krabbelt heraus, versucht wieder hineinzuspringen und schafft’s nicht ... verschwindet endlich wie ein Krebs wieder im Fass; aus! Und dann steht noch jemand auf der Bühne herum – nur so; ja steht von einem Bein aufs andere, mal hin, mal her, auch irgendwann mal schneller. Dann, mit einer anderen Figur bleibt die Bühne sogar leer, war mal wieder nix: an die Wand allerdings projizieren kann man diese Figur, übergroß übermächtig. – Allen gemeinsam: zu alledem singen sie sogar noch, lauter Gedichte von Dirk Mende, die der auf köstliche Zeichnungen von Jochen Wahl gemacht hat.
Pforzheim, 2. 10. 89
U: 2. 2. 1990 Ditzingen, Bürgersaal des Rathauses Ditzingen: Babette Dieterich, (ohne „Fettlings Drüberbein“), Nicole Bender Brigitta Borchers
Dirk Mendes Gedichte:
Zwiefach überknixt Fettlings Drüberbein
Da die Amazone mit den Niemand, ach niemand,
Nadelkissen vor ihren beachtete ihn, wie er
Ritter kniete, brüstete ganz still stand. So
sie sich, dergestalt, stand er noch nie. Keiner
daß sie ihn stichelte. stand so. Auch als er
Er aber fing an, sich immer schneller stand,
mit stechender Stimme verstand man ihn nicht.
zu entrüsten. „Sie sind meines Stehens
nicht wert“, bedachte
er sich.
„Wie wegweisend“,
ertönte es plötzlich
von unten. Da machte
er hurtigst seinen
artigen Bückling.
Die Rübe und das Faß Wieder nix
Als der gelben Rübe die Wieder nix.
Garotte umgelegt wurde,
konnte man sie noch möhren:
„Erpressen laß’ ich mich
nicht!“ Dann lief sie
rot an. Das genügte als
Geständnis.
Opus: 31
Gerlinger Chorbuch – Luther-Lieder für (in der Regel) vierstimmigen (Kirchen-)Chor (1983) op. 31 – Dauer über alle ca. 90’ – Goldbach Verlag
Das Gerlinger Chorbuch ist mein Beitrag zum Luther-Jahr 1983 mit 28 von 31 im envangelischen Kirchengesangbuch überlieferten Liedern, die in irgendeiner Weise mit Martin Luther zu tun haben, sei es, daß er Melodie und Text geschaffen hat oder bloß den Text zu einer bereits bestehenden Melodie oder, indem er alten lateinischen Text ins Deutsche übertragen hat, sogar nur einzelne Strophen zu bereits schon Bestehendem dazugedichtet hat.
Diese Melodien habe ich mit Sätzen versehen, wobei mich der idealtypische Harmonielehresatz überhaupt nicht interessiert hat, sondern, was mich interessiert hat, war das Zusammenwirken von Differenztönen, die immer dann als Naturphänomen auftreten, wenn mehrere Töne gleichzeitig erklingen. Wegen ihrer geringen Lautstärke sind sie kaum zu hören. Diese Differenztöne waren der eigentliche Anlass die Luther-Lieder zu komponieren.
Ist die Horizontale bereits schon von der Melodie her vorgegeben, so steuern die Differenztöne die Vertikale des Klangs. Im allgemeinen bin ich so vorgegangen, daß ich zur Melodie eine Gegenstimme - am häufigsten die Altstimme - nach Art des punctus contra punctum der frühen Mehrstimmigkeit oder des contrapunctus simplex der Lutherzeit entworfen habe, selbstverständlich jedoch mit weitgehend anderen Zusammenklängen wie die damals üblichen. Diese Gegenstimme habe ich so gewählt, dass sie trotz ihrer vertikalen Bindung dennoch eine gut singbare horizontale Melodie ergeben. Diese Gegenstimme habe ich der Melodiestimme unterstellt. Aus dem Zusammentreffen beider Stimmen resultieren Differenztöne, die das Material für die übrigen Stimmen abgeben. Ihre Linienführung entspricht der chorischen Singetradition. Freilich kann der harmonische Dreiklang nicht mehr Richtschnur im traditionellen Sinn sein.
Die Luther-Lieder sind reine Gebrauchsmusik und erheben keinerlei Anspruch auf Kunst im engeren Sinn. In ihrem Schwierigkeitsgrad können sie von Kirchenchören gesungen werden.
Leonberg, 24. 4. 1986
Opus: 32
2. Streichquartett (1984/ 85) in einem Satz op. 32 – 10’ – Erbacher Musikverlag
1. Streichquartett (1963/64) op. 4
2. Streichquartett (1984/85) op. 32
Die beiden Streichquartette bilden trotz über zwanzigjähriger Entstehungsdistanz eine zyklische Einheit: Ihre Struktur setzt sich aus außerordentlich kompliziert gehandhabten Kanons zusammen.
1. Streichquartett: 1. Satz: Ein instrumentierter Doppelkanon in zweierlei Zeitebenen, die ihrerseits Tempobeschleunigungen und -dehnungen vornehmen: Kernproblem: Trotz variabler Dichte und aller Zeitverschiebung untereinander ist dieselbe Klanglichkeit über den ganzen Satz gewahrt.
2. Satz: Ebenfalls ein instrumentierter vierstimmiger Kanon. Jede Kanonstimme läuft ab ihrer Mitte im Krebs zurück. Dies ergibt durch die Einsatzabstände der Kanonstimmen – erster Einsatz in der höchsten Stimme, zweiter Einsatz in der zweithöchsten Stimme, dritter Einsatz ... absteigend von der höchsten Stimme zur tiefsten eine schräg gestellte Spiegelachse, ab der jede Stimme wieder zu ihrem Ausgang zurückläuft. Auf diese Weise verschieben sich von der Satzmitte an die Zusammenklänge. Auch hier ist über den ganzen Satz dieselbe Klanglichkeit gewahrt.
2. Streichquartett: Einsätzig. Eine lange Kette von kleinen irregulären Kanons, deren zellulare Zeitproportionen sich ständig verändern, wodurch der gesamte Verlauf en detaille unvorhersagbar wird. Das 2. Streichquartett ist kein Endlos-Kanon, den man um ihn zu beenden irgendwann einmal abbrechen muss nur, weil er über keinen komponierten Schluss verfügt. In meinem 2. Streichquartett handelt es sich also nicht um eine redundante Reihung von immergleichen Wiederholungen sondern um einen in Ansätzen generativen Formverlauf, wenngleich noch ohne sich aufs Ganze auswirkende Anfangs-bedingungen, einem Indiz für spätere Symmetriebrechung und Selbstorganisation. Von Beginn an findet eine allmähliche Verdichtung bis zum räumlich-zeitlichen Scheitelpunkt des Satzes statt. Von da an läuft das System zeitsymmetrisch zurück, nicht aber spiegelbildlich tongleich. Satztechnisch beginnend in durchbrochener Zweistimmigkeit, dann gefolgt von durchbrochener Dreistimmigkeit und schließlich durchbrochener Vierstimmigkeit und wieder zurück. Das Ganze zu drei gleichlangen Teilen, getrennt voneinander von je einer sehr langen Fermate. Hinter dieser Form könnte man die Umrisse eines klassischen Sonatensatzes vermuten mit Exposition, Durchführung und Reprise. Doch in meinem 2. Streichquartett wird nichts exponiert, wird nichts durchgeführt. Reprisen gibt es nicht. Was gewesen ist, ist vorbei. Nichts kehrt wieder. Also gibt es weder formale noch materielle oder mentale Wiederholungen. Ständig entstehen neue Zellen überall und in allen Teilen. Diese Zellen haben mit den vorausgehenden Zellen nichts zu tun, außer dass sie ihnen nachfolgen (Kalauer!). Doch unser Hirn bezieht das Nachfolgende auf das Vorausgegangene immer irgendwie. Die Struktur meines 2. Streichquartetts bildet nicht den Organismus des Lebendigen ab, nicht also einen Organismus, der sich am Leben erhält dadurch, dass sich die Zellen permanent teilen. Nicht entsteht etwas durch Teilung von bereits Vorhandenem. Es entsteht immerzu etwas Neues, und was gerade entstanden ist und im Augenblick noch erklingt, zerfällt genauso schnell wieder wie es entstanden ist. Diese Zellen haben kein Gedächtnis. Deshalb gibt es im ganzen 2. Streichquartett auch keine einzige Wiederholung. Ein irregulärer Kanon folgt dem anderen bis zum Schluss, einem aus dem Ganzen hervorgegangenen komponierten Schluss.
*
Zu den beiden Streichquartetten: Der strukturelle Grundgedanke ist, in keinem Quartett eine Kanonstruktur zu wiederholen, die in einem anderen Quartett schon einmal vorgekommen ist. Dies hat mich dazu gezwungen, immer neue Kanontypen polyphoner und/oder polymodaler Art zu erfinden. Ausgangspunkt ist die komplizierte Kanonkunst der Niederländer, besonders der von Johannes Ockeghem.
Leonberg, 18. 4. 86 und 14. 2. 04
1. Streichquartett Ursendung SWF Baden-Baden 1977 (?): Pandula-Quartett; Öffentliche U 19. 1. 93: Primavera-Quartett Karlsruhe: Dorothea Jügelt, Manfred Holder, Barbara Wojciechowska, Beate Holder, Theater im Spitalhof Leonberg, 3. Tonkünstlerfest von Baden-Württemberg
2. Streichquartett U. Primavera-Quartett Karlsruhe: Dorothea Jügelt, Manfred Holder, Barbara Wojciechowska, Beate Holder; 19. 1. 1993, Leonberg Theater im Spitalhof, 3. Tonkünstlerfest von Baden Württemberg
Opus: 33
Klaviersonate (1986 - 90) op. 33 – Erbacher Musikverlag
Sequenz (1986) op. 33a mit – Prosa – Prosa-Kommentar – Refrain – Refrain-Kommentar – Vers –
Vers-Kommentar – 14’
Tropus (1989) op. 33b – auch mit zwei Klavieren möglich - 4’
Mediatio (1990) op. 33c – max. 5’
Antiphon (1987) op.33d - auch mit zwei Klavieren möglich - 5’
Responsorium (1988/89) op. 33e –
Tractus: Prologus – Chor – Vers I; Alleluja: Melodia – Vers III – Repetenda I;
Nokturn: Vers II – Responsum – Repetenda II - 20’
Auswahl einzelner Sätze ist möglich; außerdem ist die Reihenfolge frei, wie auch die
Zusammenstellung in den Sätzen
Klaviersonate (1986 - 90) op. 33
Aus einem fiktiven Brief:
Pforzheim, 8. 10. 86
... und stell’ Dir vor, Du bist in einer fremden Stadt und guckst das Rathaus an. Es ist schönes Wetter und gutes Licht. Wenn’s dunkel ist, so hört man, soll das Rathaus angestrahlt sein. Du gehst wieder hin. Jedes Mal, wenn Du dort bist, siehst Du, ja erlebst Du Neues. Aber niemals siehst Du das Ganze von vorn, mal nur ein Detail, indem Du ganz dran gehst. Schließlich hast Du so viele Gedanken gespeichert, dass es Dir gelingt, alle Deine Erfahrungen mit dem Rathaus aufeinander zu beziehen und Dir Dein Bild davon zu machen. Jetzt glaubst Du also dieses Rathaus zu kennen. Dabei hat die Reihenfolge Deiner Streifzüge anfänglich gar keine Rolle gespielt. Erst nach und nach haben sich bei Dir Gelüste herausgebildet, was Du Dir um des vollständigen Gesamteindrucks willen noch alles ansehen solltest, auch in welcher Reihenfolge.
So hast Du dich zunächst einmal völlig zufällig an dieses Rathaus herangemacht, und von dieser unbefangenen Art sich dem Gebäude zu nähern, wurde nach und nach eine immer planvollere Absicht erkennbar, sich das Gebäude zu erschließen: Gelenkter Zufall.
Ich grüße Dich ganz herzlich und hoffe, dass Du dem Labyrinth der Klaviersonate ein ähnliches Vergnügen abgewinnst wie der Entdeckung Deines Rathauses.
Dein ...
*
U Sequenz: Gunther Hauer; 4. 2. 1990, Gerlingen, Rathaus-Foyer, 2. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
U Tropus: Gunther Hauer; 4. 2. 1990, Gerlingen, Rathaus-Foyer, 2. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
U Antiphon: Gunther Hauer; 2. 2. 1990, Bürgersaal Ditzingen, 2. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
U Responsorium: Gunther Hauer; 2. 2. 1990, Bürgersaal Ditzingen, 2. Tonkünstlerfest Baden-Württemberg
U. der ganzen Sonate: Gunther Hauer, 5. 12 1990, Karlsruhe Staatliche Hochschule für Musik, Schloß Gottesaue
*
Klaviersonate (1986 – 90) op. 33
Sequenz op. 33 a
Zwölf Möglichkeiten Form zu bilden: Ausgehend von den drei direkten Strukturen Refrain, Vers und Prosa, sowie deren indirekten Strukturen, also deren Kommentaren, wird die Reihenfolge der Strukturen so gewählt, dass je eine direkte Struktur eine indirekte ablöst oder auch umgekehrt: Hat man mit einer indirekten begonnen, so folgt eine direkte. Ferner soll sich kein Strukturtyp unmittelbar wiederholen, wie z. B. Prosa und Prosa-Kommentar. Dem Strukturtyp Prosa muss also Vers-Kommentar oder Refrain-Kommentar folgen. Usw.
Tropus op. 33 b
Außerhalb Klammern liegende und in Klammern liegende Zeilen: Alles außerhalb der Klammern Liegende ist fester Bestandteil, muss also gespielt werden. Die eingeklammerten Zeilen sind Einschübe; sie können gespielt werden, alle oder x-beliebig. Vorstellbar ist auch das Spiel auf zwei räumlich weit voneinander getrennt aufgestellten Flügeln: auf dem einen werden die festen Bestandteile gespielt, auf dem anderen die Einschübe, alle.
Mediatio op. 33 c
Jede Seite (Struktur) ist mit einer Bruchzahl, einem Zähler und einem Nenner, nummeriert. Es gibt 110 Seiten. Man braucht nie alle, nur: Du fängst mit dem Zähler „1“ an, d. h. mit irgendeinem Blatt, auf dem der Zähler „1“ steht. Es gibt 10 Blätter davon (1/2, 1/4, 1/6, 1/8, 1/10, 1/12, 1/14, 1/16, 1/18 und 1/20). Dann, Du willst ja weitermachen, kommt’s jetzt auf die Höhe des Nenners an.
Beispiel 1: Gehst Du vom Blatt 1/20 aus, so musst Du ein Blatt mit dem Zähler „20“ anfügen. Davon gibt’s nur eins – weißt Du, das Stück ist halt so gemacht – und dieses eine Blatt hat den Nenner „21“. Mit dem Nenner „21“ ist Schluss, bei jedem Blatt mit dem Nenner „21“ übrigens. Du merkst es auch am Schlussstrich. Machst Du’s so, dann hast Du die kürzeste Fassung der Mediatio.
Beispiel 2: Fängst Du mit dem Blatt „1/2“ an, dann fügt sich an dieses irgendeines mit dem Nenner „2“ an. Ja, hast Du schon gemerkt? Der letzte Nenner und der neue Zähler müssen immer gleich sein. So kannst Du Dir jetzt also selber die längste Fassung zusammenstellen, wenn Du willst: 1/2, 2/3, 3/4, 4/5 usw. bis 19/20, 20/21, Schluss. Willst Du nicht, dann stell Dir eine Fassung zusammen, die irgendwo zwischen der kürzesten und der längsten liegt. Du weißt jetzt ja wie’s geht. Probier’s am besten am Instrument aus und entscheide Dich dann für die Zusammenstellung, die Deiner Ansicht nach am besten zu den umliegenden Sätzen passt.
Antiphon op. 33 d
Siehe Text zum Tropus.
Responsorium op. 33 e
Drei größere Teile zu je drei Bögen: Tractus, Alleluja, Nokturn, alle beliebig austauschbar. Und so auch ihre Verkleinerung, bogenweise: Der Tractus enthält Vers I, Chor und Prologus. Das Alleluja besteht aus Repetenda I, Vers III und Melodia. Die Nokturn umfasst Vers II, Repetenda II und Responsum. Wer will, kann 108 mal verschiedene Form bilden. Wozu?
*
Klaviersonate (1986 – 90) op. 33
Formschema:
a) Sequenz (1) Prosa (2)
Prosa-Kommentar (2)
Vers (2)
Vers-Kommentar (2)
Refrain (2)
Refrain-Kommentar (2)
b) Tropus (1) Klammern fakultativ (3)
c) Mediatio (1) Auswahl aus 110 Strukturen
d) Antiphon (1) Klammern fakultativ (3)
e) Responsorium (1) Tractus (4) Vers I (5)
Chor (5)
Prologus (5)
Alleluja (4) Repetenda I (6)
Vers III (6)
Melodia
Nokturn (4) Vers II (7)
Repetenda II (7)
Responsum (7)
(1) die Reihenfolge aller Sätze ist frei
(2) die Reihenfolge ist frei; dabei soll sich kein Strukturtyp unmittelbar wiederholen, wie z. B. nicht Prosa und Prosa-Kommentar. Dem Strukturtyp Prosa mss also Vers-Kommentar oder Refrain-Kommentar folgen.
(3) gilt nicht für zwei Klaviere
(4) die Reihenfolge dieser Strukturtypen ist frei
(5) innerhalb des Tractus austauschbar
(6) innerhalb des Alleluja austauschbar
(7) innerhalb der Nokturn austauschbar
*
Die Mediatio ist zwar schon der Mittelpunkt, die Achse – nicht aber das Zentralstück, denn überall steckt der zentrale Gedanke, mal ganz nah, mal aus weiter Sicht. Der Mediatio kommt also keine Schlüsselrolle zu im Sinn von „Einstieg in das Ganze“ oder „jetzt ganz dran“. „Mediatio“ steht nur in der Zahlenmitte, um die sich die anderen Sätze gruppieren, bei vollständigem Spiel aller fünf Sätze zwei davor, zwei dahinter. Also kommt der „Mediatio“, wenn überhaupt, nur Gliederungsfunktion zu. Jedoch ist es nicht einmal erforderlich alle fünf Sätze zu spielen. Gleichgültig wie viele Sätze man auch spielt, man kann zwischen die einzelnen Sätze sogar andere Musik einfügen, denn ... wir werden auf die Sache schon wieder zurückkommen (siehe meinen fiktiven Brief vom 8. 10. 1986).
Also zwölf Möglichkeiten Form zu bilden, wenn bei fünfsätzigem Spiel der Tropus vor der Mediatio steht und die Antiphon danach – oder umgekehrt – dann Sequenz und Responsorium genauso, also zwei davor, zwei danach. Spielt man nur zwei Sätze, so sollte die Mediatio nicht dabei sein, denn ihre formgliedernde Funktion kann sie in diesem Fall nicht ausüben. Anders, wenn drei Sätze gespielt werden: Ist sie dabei, so steht sie in der Mitte. Bei vier Sätzen? Wenn man sie braucht, steht sie an zweiter oder dritter Stelle, je nach dem Gewicht der umliegenden Sätze, sodass sie in der Zusammenstellung die relative Mitte bildet. Dann noch: Will man die Mediatio vielleicht alleine spielen? Welchen Sinn macht das?
Opus: 34
Bittere Wasserzeichen, ein Zyklus für Frauenstimme(n) und Klavier (1990) op. 34
eine Auswahl der einzelnen Teile ist möglich, ihre Zusammenstellung ist frei.
Die Bitteren Wasserzeichen können in freier Auswahl mit der Zertrümmerten Zeit op. 35
durchmischt aufgeführt werden. –
1.) Gedicht in seiner dreifachen Gebrochenheit: Vberschrift an dem Tempel der Sterbligkeit von
Andreas Gryphius –
empfohlen: drei Sängerinnen (je eine für jeden Grad der Gebrochenheit); 13’ –
2.) Gedicht in seiner zweifachen Gebrochenheit und schließlich endgültigen Zerbrochenheit:
Dann gibt es nur eins! von Wolfgang Borchert –
empfohlen: drei Sängerinnen (zwei für je einen Grad der Gebrochenheit und eine für den
Grad der Zerbrochenheit); 38' –
Auswahl empfohlen; 51’ – Erbacher Musikverlag
Bittere Wasserzeichen
Ein Zyklus für Frauenstimme(n) und Klavier op. 34
52 große Bögen: Nicht auszudenken, diese Musik am Stück aufzuführen oder anzuhören! Solchermaßen geschunden kommt keiner unbeschadet raus. Will man’s anders, so wählen die Interpreten aus.
Jedes Gedicht gibt’s in seiner ganzen Länge. So ist’s vom Dichter her. Er macht sein Gedicht als volle Fassung mit über den eigentlichen Sinn oftmals weit hinausgehenden Sätzen, vieldeutig, irreführend, überflüssig, jedenfalls nicht auf Anhieb den Kern des Gedichts treffend. So kann nur die Rücksichtslose Reduktion zurück bis auf den Kern der dichterischen Aussage schlussendlich zum Ziel führen. Ein solcher Vorgang läuft ab, ist nicht von vornherein einfach da. So gibt’s (hier) drei Entwicklungsstufen: Da ist des Dichters unveränderter Text, dann gibt’s diesen bereits verkürzten Text in seiner ersten Gebrochenheit (bei Gryphius) oder in seiner Gebrochenheit (bei Borchert) als angefangene Form von Reduktion und schließlich wieder diesen stark verkürzten Text in seiner zweiten Gebrochenheit (bei Gryphius) oder in seiner Zerbrochenheit (bei Borchert) als letzte und knappste Stufe im Verlauf von Reduktion.
Beginnen kann man mit dem Originaltext oder einer der Gebrochenheiten, mit jedem Gedicht (entweder mit dem von Gryphius oder mit dem von Borchert), mit jeder Strophe (bei Borchert; übrigens: hier liegt eine Reihung vor, deren Gänze und Einhaltung sowieso unwichtig ist). Wie’s dann weitergeht? Der Reihe nach? Welcher? Also sag. Woher soll ich das wissen? Wie das Leben halt so spielt. Dabei gibt’s immer einen unausweichlichen und bestimmten Schluss, wie hier: „Du Mutter in der Normandie ...“ in ihrer Zerbrochenheit. Dann noch: Kann man sich nicht auch für jede Stufe der Reduktion je ein eigenes Interpretenpaar vorstellen oder nur eine andere Sängerin, oder ...? Soll ich das auch noch wissen? So, und wenn ihr wollt, bringt halt meinetwegen auch dann und wann noch (Erbacher z. B. die Zertrümmerte Zeit oder ganz) andere Musik dazwischen. Welche? Wenn ich das auch noch wissen muss, dann gibt’s nur eins: ich sag NEIN.
Leonberg, 28. 11. 91
U: Doris Vetter, Nicole Bender, Johanna Erbacher-Binder (Stimmen), Guida Borghoff (Klavierbegleitung), 19. 1. 93, Theater im Spitalhof, Leonberg, 3. Tonkünstlerfest von Baden-Württemberg
Bittere Wasserzeichen
Zur Form:
Ich gehe zunächst mal von dem aus, was des Dichters Text ist. Das lasse ich auch so. Und dies ergibt soweit mal die erste Fassung. Solchermaßen dem Text entlang gegangen wurden auch fast alle Gedichte, die je gemacht worden sind, vertont. Das mag auch in den meisten Fällen genügen. Mir aber reicht dies in den hier zugrundeliegenden Dichtungen nicht, weil der vom Dichter übergeordnete Satz nicht den Kern des Gedichts enthält. Der Dichter reichert mit seinem Satz den Kern seines Gedichts an und kommentiert damit bereits den Sinn des Gedichts. Um diesem Sinn nachzukommen, beschreite ich den Weg der Reduktion, schäle also weg, was immer unwichtiger geworden. So führen schließlich weitere Schritte zu immer rücksichtsloseren Formen der Reduktion.
Weil in Wolfgang Borcherts Gedicht Dann gibt es hur eins! der Kern nur lautet sag NEIN!, spielt es überhaupt keine Rolle, wer dies sagt und wer dies zuerst sagt. Insofern sind, weil von Borchert eine bloße Reihung vorliegt, die einzelnen Strophen austauschbar bis auf den Schluss des Gedichts Du, Mutter in der Normandie ... Dieser Schluss bleibt, wo er hingehört. Die übrigen Strophen können also untereinander frei ausgetauscht werden. Aber nicht nur dies: Auch können die Stufen ihrer Reduktion von der Originalstrophe über die Grade von Gebrochenheit frei ausgetauscht werden. Die Zerbrochenheit steht (wie erwartet) am Schluss. Am besten ist’s, wenn es überhaupt keine unmittelbare Folge eines Verses von gleichem Inhalt gibt, wie z. B. Du, Mann an der Maschine: Original – Gebrochenheit – Zerbrochenheit, es sei denn, es handelte sich um eine exemplarische Vorführung der verschiedenen Fassungen von derselben Textstellte. Auch kann ich mir vorstellen, dass eine der Fassungen von Andreas Gryphius’ Gedicht Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit an irgendwelchen Stellen in das Gedicht Dann gibt es nur eins! von Wolfgang Borchert eingeschoben wird.
Schön, wenn es gelänge, die Abfolge von Aufführung zu Aufführung immer wieder zu ändern. Bewegung ist das Leben.
Leonberg, 27. 3. 91
Bittere Wasserzeichen (1990/91)
Andreas Gryphius
Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit
Ihr jirr’t in dem ihr lebt: die gantz verschränckte bahn
Läßt einen richtig gehen. diß was ihr wünscht zu finden
Ist jrrthumb: jrrthumb ists der euch den Sinn kann
binden.
Was Ewer Hertz ansteckt / ist nur ein falscher wahn
Schawt arme / was jhr sucht. Warumb so viel gethan?
Vmb diß was fleisch vnd schweiß vnd blut / vnd gut /
vnd Sünden
Vnd fall / vnd weh nicht nicht hält; wie plötzlich muß
verschwinden
Was diesen / der es hat / setzt in deß Todes Kahn.
Jhr jirr’t in dem jhr schlafft / jhr jirr’t in dem jhr
wachet
Jhr jirr’t in dem jhr trawrt / jhr jrr’t in dem jhr lachet /
In dem jhr diß verhöhnt / vnd das für köstlich acht.
In dem jhr Freund als Feind / vnd Feind als freunde
sätzet /
In dem jhr Lust verwerfft / vnd weh für wollust schätzet /
Biß der gefund’ne Todt euch frey vom jirren macht.
*
Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit
in ihrer ersten Gebrochenheit
Ihr jirr’t in dem ihr lebt:
diß was ihr wünscht zu finden
Ist jrrthumb: jrrthumb ists
falscher wahn
Schawt / was jhr sucht. Warumb
Jhr jirr’t in dem jhr schlafft / jhr jirr’t in dem jhr
wachet
Jhr jirr’t in dem jhr trawrt / jhr jrr’t in dem jhr lachet /
In dem jhr verhöhnt /
jhr
jirren
**
Vberschrifft an dem Tempel der Sterbligkeit
in ihrer zweiten Gegrochenheit
Ihr jirr’t
jrrthumb: jrrthumb
wahn
Jhr jirr’t jhr jirr’t
Jhr jirr’t jhr jrr’t
jhr
jirren
__________
Wolfgang Borchert
Dann gibt es nur eins!
Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen
– sondern Stahlhelme und Maschinengewehre,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Mädchen hinterm Ladentisch und Mädchen im Büro.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
Granaten füllen und Zielfernrohre für Scharfschützgewehre
montieren,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
statt Puder und Kakao Schießpulver verkaufen,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Forscher im Laboratorium.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
einen neuen Tod erfinden gegen das alte Leben,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Dichter in der Stube.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
keine Liebeslieder sondern Haßlieder singen,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Arzt am Krankenbett.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
die Männer kriegstauglich schreiben,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Pfarrer auf der Kanzel.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
den Mord segnen und den Krieg heilig sprechen,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Kapitän auf dem Dampfer.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
keinen Weizen mehr fahren, sondern Kanonen und Panzer,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Pilot auf dem Flugfeld.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
Bomben und Phosphor über die Städte tragen,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Richter im Talar.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
zum Kriegsgericht gehen,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof.
W e n n s i e d i r m o r g e n b e f e h l e n , du sollst
das Signal zur Abfahrt geben für den Munitionszug
und für den Truppentransport,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt.
W e n n s i e m o r g e n
kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen,
d a n n g i b t e s n u r e i n s : Sag NEIN!
Du. Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine,
du, Mutter in Frisko und London,
du, am Huangho und am Missisippi,
du Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo –
Mütter in allen Erdteilen.
Mütter in der Welt,
w e n n s i e m o r g e n b e f e h l e n , ihr sollt
Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette
und neue Soldaten für neue Schlachten,
Mütter in der Welt,
d a n n g i b t e s n u r e i n s :
Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!
Dann gibt es nur eins!
In seiner Gebrochenheit
Du. Mann.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Mädchen.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Besitzer der Fabrik.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Forscher.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Dichter.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Arzt.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Pfarrer.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Kapitän.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Pilot.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Richter.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Bahnhof.
W e n n s i e d i r d e n G e s t e l l u n g s b e f e h l b r i n g e n ,
Sag NEIN!
Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt.
W e n n s i e d i r b e f e h l e n ,
Sag NEIN!
Du. Mutter,
Mütter in allen Erdteilen.
Mütter in der Welt,
w e n n s i e b e f e h l e n ,
d a n n g i b t e s n u r e i n s :
Sagt NEIN!Sagt NEIN!
Opus: 35
Zertrümmerte Zeit, ein Zyklus für hohe Männerstimme und Klavier (1992) op. 35 – Die Zertrümmerte Zeit kann mit einer freien Auswahl aus den Bitteren Wasserzeichen op. 34 durchmischt aufgeführt werden. –
1.) Hans Magnus Enzensberger: Zukunftsmusik, Gedicht ungebrochen – 4’
2.) Peter Härtling: Kassiber, Gedicht zweifach gebrochen – 7’
Erbacher Musikverlag
Zetrümmerte Zeit
Ein Zyklus für hohe Männerstimme und Klavier (1992) op. 35
Die Zertrümmerte Zeit ist aufs engste mit den Bitteren Wasserzeichen op. 34 verwandt: eigentlich die Fortschreibung dieser, jetzt allerdings mit einer hohen Männerstimme statt wie in den Bitteren Wasserzeichen mit einer (oder mehreren) Frauenstimme(n). Auch formal findet man in beiden Zyklen dasselbe Vorgehen: die Reduktion. So gibt’s jedes Gedicht in seiner ganzen Länge, so wie’s vom Dichter ist, oder in seiner Reduktion: so bei der Zukunftsmusik von Hans Magnus Enzensberger oder dem Kassiber von Peter Härtling.
Zur Reduktion: Härtlings Gedicht Kassiber gibt’s in der musikalischen Komposition in zweierlei Fassungen, der originalen Gedichtfassung, also der unveränderten, und der reduzierten, also einer den Originalwortlaut des Gedichtes verkürzten Fassung. Dieses Weglassen von (vermeintlichem) Ballast schafft ein anderes dramatisches Tempo als das Gedicht in seiner ganzen Länge, ohne jedoch an der Grundaussage des Gedichts etwas zu ändern. Der vom Verständnis her einzige Unterschied beider Fassungen besteht letzten Endes darin, dass das ganze Gedicht in seinem Erlebnistempo als „langsamer“ erlebt und das reduzierte Gedicht als „schneller“ erlebt wird. Letzte Fassung ist auch wesentlich kürzer als die mit dem vollen Wortlaut. Je nachdem, welche Fassung man zuerst nimmt, wirkt sich das auf das empfundene Verlaufstempo des ganzen Zyklus aus: Entweder beschleunigt sich sein dramatisches Tempo oder es verlangsamt sich. - Die Zukunftsmusik von Enzensberger erscheint nur in seiner einzigen ungebrochenen Gestalt, weil sich das Gedicht in seinem Originalverlauf auf seinen Schluss hin bereits von selbst reduziert. So entfällt für die Interpreten die Entscheidung, mit welcher Fassung der Zukunftsmusik sie den Zeitverlauf des gesamten Zyklus beeinflussen sollen).
Die Abfolge der drei Teile der Zertrümmerten Zeit ist frei. Wird die Zertrümmerte Zeit zusammen mit (nur Teilen aus) den Bitteren Wasserzeichen in demselben Konzert aufgeführt, so ist eine Durchmischung beider Zyklen anzustreben. Für diesen Fall sollte dann die gesamte Klavierbegleitung von einer Person ausgeführt werden. So zeigt sich der ruhende Pol von Zusammengehörigkeit.
Leonberg, 30. 1. 90 und 10. 2. 04
U: Georg Grunenberg-Künstler (Stimme, Guida Borghoff (Klavierbegleitung), 7. 2. 93, Gerlingen, Jahnhalle: 3. Tonkünstlerfest von Baden-Württemberg
Texte
Hans Magnus Enzensberger
Zukunftsmusik
Die wir nicht erwarten können,
wird’s lehren.
Sie glänzt, ist ungewiß, fern.
Die wir auf uns zukommen lassen,
erwartet uns nicht,
kommt nicht auf uns zu,
nicht auf uns zurück
steht dahin.
Gehört uns nicht, fragt nicht nach uns,
will nichts von uns wissen,
sagt uns nichts,
kommt uns nicht zu.
War nicht,
ist nicht für uns da,
ist nie dagewesen,
ist nie da,
ist nie.
__________
Peter Härtling
Kassiber Kassiber
umbrochen
Woran ich darbe –
Ich hab es ausgebeint. ausgebeint.
Eine Geschichte erzähle ich euch, Eine Geschichte
ihr habt sie vergessen vergessen
bis auf den letzten Satz.
Ihr rechnet mit mir, Ihr rechnet mit mir,
mit einem, mit einem,
der sich durch Erinnern verrät. der sich durch Erinnern verrät.
Dort aber, auf der Linie, Dort aber,
die ihr scheut, vorm Abgrund, vorm Abgrund,
sammle ich eure Nachrede ein eure Nachrede
und widerlege, widerlege,
was ihr mir zuschreibt: was ihr mir zuschreibt:
Mit einem Wort, mit mir. Mit einem Wort, mit mir.
Opus: 36
Klavierkonzert für ein bis mehrere Klaviere im Raum verteilt und ebensoviele Pianisten op. 36 - bis jetzt: mehrere Klavierkadenzen (1992), gleichzeitig oder zeitversetzt zu spielen - Erbacher Musikverlag
geplant: weitere Szenen mit den Pianisten und weiteren Musikinstrumenten von einzelnen bis zum Großen Orchester im Raum verteilt, auch im Raum beweglich
Klavierkonzert (1992 ...) op. 36
(vollkomm’richtich :Filolo-
gn(selbst)beschränktheit;
und schlaffer Leserfeinsinn
( :Ich muß immer bei Alläm
’denkn’; (&bin also eigentlich
für nichts zuständich ...)
Arno Schmidt :Zettels Traum
- zettel 12o –
:) ob’s zuerst mit einer Kadenz klaviert, oder
mit einer ebnsolchn aber (vollkomm’richtich :)
ebn selbstverständlich andern vom andern
(jetzschon) drittn (!) Klavier ... (usw.) ...
(manchmal alläs (fast) gleichzeitich – der (wie
man’s nimmt) (fast nachnander) ... oder ob’s
mit ... oder wie’s auch klavierklingt irgendwoher
aus dem Raum &dann dialogisiert mit irgendwo &irgend-
wie im Raum aufgekomm’nem Orchestergeklinge,
bisweiln filigran oder als grässliche Zusammnrottung den
ganzn Raum überzogn ...
... wie’s endet &unterwegs zusammngestellt wordn ist
alläs zu Teiln oder aus alln Teiln - ’sbleibt
immer mein Klavierkonzert :nie ganz fassbar, immer
transitorisch.
... auch so bei Deiner Arbeit? ...
’s entsteht grad :jetzt haben wir dän drittn Mars 1992
Opus: 37
שיר השירים Das Lied der Lieder(Das Hohelied), das von Schlomo her ist
in deutsche Verse übertragen von Leopold Marx
kommentiert mit Frauen(spre/ach)stimme(n), Männer(spru/ach)stimme(n), gemischten (Spra/uch)chor und Schlaginstrumenten op. 37
שיר השירים schir ha’schiri:m, Das Lied der Lieder oder Das Hohelied, das von Schlomo her ist
in deutsche Verse übertragen von Leopold Marx
kommentiert mit Frauen(spre/ach)stimme(n), Männer(spru/ach)stimme(n), gemischten (Spra/uch)chor und Schlaginstrumenten op. 37
Bis jetzt vorhanden nur Vorarbeiten zu Musik und Text.
Steinalt ist der Text inzwischen. Doch von seiner damaligen Aktualität hat er bis heute nichts verloren. Er ist in alle Weltsprachen und in viele Dialekte übersetzt. Inzwischen ist er zu einem Stück Weltliteratur geworden. Viele kennen ihn. Und wer ihn kennt, erlebt ihn auf seine Weise als seiner eigenen Geschichte Bilder, Symbole, Gesten, ichnah, also in seiner eigenen emotionalen Verbundenheit und damit mehr oder weniger fernab von der eigentlichen Geschichte, die das Original erzählt. Erzählt wird die Beziehung zweier Liebender. Warum aber dieser eigentlich ganz alltägliche Stoff so stark auf uns wirkt, liegt zum einen selbstverständlich am Stoff selbst und zum anderen an seiner geradezu zwingenden Einladung zur Projektion: Wir erleben uns im Erzählten selbst. Das ist das Geheimnis, warum sich dieser Stoff über zweitausend Jahre gehalten hat und weiterhin auch halten wird. שיר השירים schir ha’schiri:m ist also nicht nur Wortlaut sondern vor allem die letztlich eigengeleistetete wuchernde Fantasie, die die Leser in ihren Bann zieht. Eigenartig: und der Gehalt des Originals bleibt doch immer noch gegenwärtig trotz allen Fortgerankes und der unerschöpflichen Zahl von immer neuen Bildern und Klängen.
Der Urtext von שיר השירים schir ha’schiri:m ist in biblischem Hebräisch verfasst. Geradezu tautologisch ist dann, dass in diesem Idiom auch seine Intonation erklingt. Und diese vermittelt bei Juden wie auch bei Nichtjuden dieselben reflexiven Emotionen. Und das will heißen – so sagen’s jedenfalls die Sprachethnologen und besonders die Entwicklungspsychologen –, dass das Erkennen von sprachlich transportierten Sinngehalten über einen in allen Sprachen mehr oder weniger gleichen Grundkonsens erfolgt. Dieser Grundkonsens schließt alles ein, was das Hervorbringen von einerseits Sprachklängen und deren Verlauf zu syntaktischen Fügungen angeht, also ihre Sprech- oder Klanghöhen, ihre Akzente, ihr Melodieverlauf und damit verbunden die stimmliche Modulation, sowie ihre Dynamik im Einzelnen wie auch im Übergeordneten und nicht zuletzt das Tempo ebenfalls im Einzelnen wie auch im Übergeordneten, und andrerseits die Mimik des Akteurs, sein Augenausdruck, sein Gestikulieren, seine Körpersprache, sein Auftreten, seine Präsenz, wodurch alles in allem von ihm ein nicht zu unterschätzender theatralischer Reiz von hoher Signalwirkung ausgeht. Alle diese Dinge kommen wie gesagt gleich oder so ähnlich in den meisten Sprachen und Kulturen vor und werden dort auch gleich oder so ähnlich verstanden. Sie sind es, die die Grundmuster natürlicher Kommunikation bilden. Deshalb ist es auch letzten Endes nicht weiter von Belang, in welcher Sprache oder in welchen Sprachen שיר השירים schir ha’schiri:m komponiert ist. Sogar eine Fantasiesprache ist denkbar, wenigstens solange ihre Deklamation mit der Gestik des zu übermittelnden Sinngehalts übereinstimmt.
Leonberg 9. 4. 1989/13. 9.1994/18. 3. 2015
Opus: 38
Etyms, Sätze für Es-Klarinette, D-Klarinette, B-Klarinette, A-Klarinette, Bassetthorn, Bassklarinette und Kontrabassklarinette (1992) op. 38 – nacheinander oder (teilweise) gleichzeitig zu spielen – Dauer von so ungefähr 8’ bis zu vielleicht etwas über 20’ – Erbacher Musikverlag
Etyms
Sätze für Es-Klarinette, D-Klarinette, B- Klarinette, A- Klarinette, Bassetthorn, Bassklarinette und Kontrabassklarinette
nacheinander oder (teilweise) gleichzeitig zu spielen op. 38
„Sie erwiderte (auf Zettel 124 [von Arno Schmidts Zettels Traum] ganz&gar finster): „Das Hauptgewicht liegt – muß liegn – beim Wort auf der Recht=Schreibung? Beim Etym auf Klang & Symbolsinn? ...“
(Meint Ihr dän : so aufphäl-
lig phile Dichter seien, &
immer wieder !, gegen die
’herrschende Orthografie’
angerannt? War, bei Uns,
KLOPSTOCK ein Narr ? Oder
VOß & JEAN PAUL ? Oder, in
Frankreich, RÉTIF DE LA
BRETONNE ?; (Dér=sogar 1
besonders curioser Phall.)
(So und jetzt schnell raus aus dem selbstgephällign GeziereZitat …) Haste schon auf die Klarinettn geguckt, wie die’s machen?! ... Beim Etym auf Klang & ...(!)
Die Etyms sind im Februar 1992 in Leonberg entstandn.
Opus: 39
3. Streichquartett „gestalten“ (1993; 99) op. 39 – Die Sätze sind frei zusammenstellbar – Gesamtdauer ca. 38’ – Erbacher Musikverlag
Sequenz [1993] mit Prosa und drei Aufbildern und mit Vers und drei Aufbildern – 6’20“
Percussio [1993] – ca. 3’
Ostinato [1993] mit Color I und II und Talea I und II – ca. 9’.
Reductio [1999] – 6'20''.
Tropus [1993] mit Apertum und Clausum – 3’30”.
Responsum [1993] mit Tractus und Nokturn mit je fünf Aufbildern – 9’15“
Die Satzfolge ist frei, auch Auswahl möglich
3. Streichquartett (1993/1999) op. 39
„gestalten“
: „Ch wollt die StrömungsGeschwind-
ichkeit ma wissn : Wir habm Zeit, individuell zu sein, gelt Fränzi?“
(Sie nickde, schweignd ...
- : Ganz=recht (: auf – zettel 4 – (Arno Schmidt : ZETTEL’S TRAUM, I. Buch: D a s
S c h a u e r f e l d oder die Sprache von Tsalal))
: ) Wir habm Zeit ...(&Du gucksd aufDein Chronometer soo, als obs das schon wa(e)hr!!) ...
ZEIT?! ... (&die willsDe auch noch erlebn?! – Wie dänn?!!!) ... Guck mal, sagt sie dann - ; im
Tonphall auch noch so ent-sätz-lich grawi-tät-isch! „Allä aus Materie aufkeimndn
Ordnungn & Systeme sind mit Energie-ver-Lust verbundn.“
(Sie (‚Fränzi’) nickde (wieder), schweigend ...
... phur dann aber (nichtminder aufphällig (oder abphällig – das ist hier noch immer die
Phrage - )) phort: „Durch solche Energie-ver-Lüste – die Ordnung &Systeme verödn,
wenn ihn’n nicht fließend neue Energie zugeführt wird – entstehn unumkehrbare Prozesse.“
(Sie, (‚Fränzi’) nickde (wieder, jetzt aber überstürzt, heftig ... &aus ihr furhr’s heraus ...
„Dannsssindja die „Aufbilder“ Ordnungen von gerichteter Zeit &im 5. „Aufbild“ is alläs
drin, was inden vorausgegangenen auchschonn drinn war, ganz generativ - & wennDu
dann auch nochdie StrömungsGeschwind-ichkeit ma erlabn willst (weißtDu noch, daßDu
früher mal gefragt hast „Wie dänn?!“), merkstDu’s allein schonn am Zeitvergleich der
„Aufbilder“; die werdn nämlich immer kürzer oder immer länger, kommt drauf an wie sie
die Spieler ordn’n. – Noch was? Ja, &die Zeit, individuell zu sein, habm wir auch. –
Glaub ich nich! – Doch!! Sag’ich doch grad! – Wie? – Die Sätze &sogar die in ihnen
enthaltnen „Aufbilder“ sind frei austauschbar! &da siehste nämlich dann bei der Abfolge
der „Aufbilder“, wänndie immer kürzer aufeinanderfolgn oderi immer längeren, wie’s also
dazu gekommn is oder wie’s noch dazu kommn wird. - &dannoch: wozu austauschbar,
wieso, warum? –Guck mal: ‚s ist doch sowiso egal, aber keineswegs fatalistisch(!); in
welcher Reih’nfolge; dänn: Die Eignschaft der ZEIT hält sowieso alläs in Bewegung,
&dieses Alläs is transitorisch, nichts is fest. Alläs, auch unser Leben is 1 Prozeß.
*
Das 3. Streichquartett umfasst sechs Sätze: Sequenz (a), Percussio (b), Ostinato (c), Reductio (d), Tropus (e) und Responsum (f). Bis auf die Percussio (b) und die Reductio (d) besteht jeder Satz aus zwei Großstrukturen: so die Sequenz (a) aus Prosa und Vers, der Ostinato (c) aus Color und Talea, der Tropus (e) aus Apertum und Clausum, das Responsum (f) aus Tractus und Nokturn. Alle Großstrukturen sind das Ergebnis einer generativen und dissipativen Fortschreitung. Alle Sätze sind austauschbar, auch die Großsstrukturen innerhalb ihrer Sätze.
*
Zu den "Gestalten": Jeder Satz wird angetrieben von Gestalten. Gestalten sind etwas Aktives ("Gestalten gestalten Gestalten"). In meinem 3. Streichquartett bestehen sie aus oft nur vier bis acht Tönen. Diese Töne sind so komponiert, dass sie gewisse kollektive Eigenschaften erfüllen. Ein Beispiel: vertikale Klangaggregate - das sind Schallereignisse mit dem Bestreben Klänge zu bilden, in denen es keine harmonischen Grundtöne gibt. In vertikalen Klangaggregaten sind alle Töne gleichberechtigt. Ihren Klang bezeichne ich, weil er sich von harmonischen auf der Obertonreihe gründenden Klängen radikal unterscheidet, mit Sonorität. Ein zweites Beispiel: horizontale Klangaggregate - das sind Schallverläufe von Klangspreizung oder Klangstauchung. Eine Klangspreizung liegt dann vor, wenn der Ton oder ein einfaches Geräusch sukzessiv gewandelt wird in einen komplexen Mehr- oder Vielklang oder ein einfaches Geräusch sukzessiv gewandelt wird in einen unharmonischen Klang oder in ein komplexes Geräusch, womöglich sogar noch in ein komplexes instabiles Geräusch oder im Extremfall in ein ganz und gar instabiles Geräusch. Eine Klangstauchung liegt dann vor, wenn hochkomplexe unharmonische Klänge oder gar ganz und gar instabile Geräusche sukzessiv gewandelt werden in einen Einzelton oder ein sukzessives Intervall oder wenn hochkomplexe Geräusche in ebenfalls einen Einzelton oder in ein sukzessives Intervall gewandelt werden. Alle Wandlungen vollziehen sich in genuiner zeitlicher Schraffur. Außerdem besitzt jede "Gestalt" das Potenzial, sich generativ fortzusetzen, sich nicht also in bloßen Wiederholungen zu ergehen, die nur Stillstand sind, sondern dissipativ (sich entwertend) fortzuschreiten, und das heißt weitergehen in überwiegend immer geringeren Schritten bis zur endgültigen Auflösung. Das ist dann das Ende der Gestalt.
Zum "Aufbild": Das 1. Aufbild entsteht, indem in einem ersten Schritt die beiden gleichlangen Gestalten a und b nacheinander exponiert werden. Danach wird in einem zweitem Schritt die Gestalt b auf die Gestalt a projiziert. Das Ergebnis ist das 1. Aufbild. Es ist doppelt so lang wie die beiden Gestalten a und b. Das 2. Aufbild entsteht, indem eine neue Gestalt c, die (etwas) kürzer ist als das 1. Aufbild, auf ebendieses 1. Aufbild projiziert wird. Ist die Projektion der Gestalt c auf das 1. Aufbild zuende, ist das 2. Aufbild entstanden. Es ist kürzer als das 1. Aufbild. Das 3. Aufbild entsteht, indem eine neue Gestalt d, die (etwas) kürzer ist als das 2. Aufbild, auf ebendieses 2. Aufbild projiziert wird. Ist die Projektion der Gestalt d auf das 2. Aufbild zuende, ist das 3. Aufbild entstanden. Es ist wiederum kürzer als das 2. Aufbild. Das 4. Aufbild entsteht, indem eine neue Gestalt e, die wiederum (etwas) kürzer ist als ... Jedes neue Aufbild ist kürzer als sein vorausgegangenes. Durch Hinzufügen einer neuen Gestalt (c, d, e, usw.) ändert sich die Sonorität. Wiederholungen sind ausgeschlossen. Die Aufbilder in meinem 3. Streichquartett verkürzen sich linear. Ziel ist eine ganze Kette von "Aufbildern" zu bilden, die alle aus dem ersten "Aufbild" hervorgehen. Alle "Aufbilder" einer solchen Kette bilden eine Großstruktur, einen Satz oder auch nur einen Teil eines Satzes.
Zum "Abbild": Abbilder sind im Prinzip auch "Aufbilder", nur dass ihre Ausgangsbedingungen zu denen der "Aufbilder" umgekehrt sind: Das 1. Abbild entsteht, indem die Gestalt a auf die Gestalt b projiziert wird (also in umgekehrter Reihenfolge zum Aufbild). Das hat andere Tonhöhen und Tonlängen zur Folge als bei der Projektion b auf a. Sonst gelten dieselben Bedingungen des Klang-Dauern-Kontinuums und die der Klangmultiplikation und Dauernmultiplikation.
Zu "Apertum" und "Clausum". In Aptertum und Clausum wirkt sich die Entwertung nicht aus.
Leonberg, 20. 9. 93 /10. 6. 94 /17. 2. 99/15. 2. 2018
U Ostinato und Responsum: Primavera-Quartett Karlsruhe: Dorothea Jügelt, Manfred Holder, Barbara Wojciechowska, Beate Holder; 27. 2. 1996, Leonberg Theater im Spitalhof, 4. Tonkünstlerfest von Baden-Württemberg
U des bis dahin ganzen Quartetts ohne den nachkomponierten Satz Reductio: Primavera-Quartett Karlsruhe: Dorothea Jügelt, Manfred Holder, Hans Leptin, Beate Holder; 20. 1. 1999, Leonberg Theater im Spitalhof, zum 750jährigen Stadtjubiläum
Opus: 40
1. Orgelsonate „sequenzieren“ (1995/96/2004) op. 40 – Reihenfolge der Sätze ist frei – A schnell; ca. 2’30’’ – B eher langsam; ca. 1’45’’ – C schnell; ca. 2’30’’ – D äußerst langsam; ca. 3’20’’ – E eher langsam; 1’15’’ – Gesamtdauer 11’30“ – Erbacher Musikverlag
1. Orgelsonate „sequenzieren“ (1995/96/2004) op. 40
Johanna zum Geburtstag
Die ersten vier Sätze (A bis D) der 1. Orgelsonate sind 1995/96, der fünfte Satz (E) ist 2004 entstanden, alle Sätze in Leonberg. Von der alphabetischen Benennung der Sätze kann man nicht auf ihre Reihung schließen. Die Abfolge der Sätze ist frei.
Die 1. Orgelsonate ist das kompositorische Ergebnis eines Referats, das ich im Oktober 1995 auf Einladung von Alexandr Fiseisky auf der Internationalen wissenschaftlich-praktischen Orgelkonferenz in Moskaus Staatlicher Gnesin-Musikakademie (dem Pralellinstitut zum Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium) gehalten habe. Ich referierte über „Das Zeitproblem in der Musik“ aus meiner kompositorischen Sicht. Als Arbeitsprobe dafür, wie und dass sich meine vorgetragenen Thesen überhaupt in die Praxis umsetzen lassen, wollte ich zur Konferenz eine Orgelsonate vorlegen. Doch dieses war mir wegen der nur geringen Zeit zwischen Einladung und Konferenz nicht möglich. So entstand die 1. Orgelsonate erst nach meinem Moskauaufenthalt.
*
Unter Sequenzieren versteht man in der Neurophysiologie und Psychophysik den neuronalen Prozess des Erfassens von Informationen. Dabei werden, wie man heute weiß, elementare Ereignisse in einem zeitlichen Takt tomographisch (= scheibchenweise) abgetastet, dessen Taktsignale im Abstand von etwa 30 Millisekunden erfolgen. Erst bei Signalabständen von mehr als 30 Millisekunden Dauer werden Reize zu Bausteinen des Erlebens und damit zu Ereignissen mit zeitlicher Eigenständigkeit. Was zeitlich darunter liegt, wird nicht erfasst. Sind Reize im Gehirn angekommen, so erst bildet sich eine zeitliche Vorstellung in Form einer festen Reihenfolge des Ablaufs. Diesen Vorgang nennt man Diskrimination. Ein oszillierender Taktmechanismus des Gehirns – das sind um die 300 000 Impulse pro Sekunde auf die Gehirnrinde – schafft die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt ein regelmäßiges Tempo als solches empfinden oder in gleichmäßigem Tempo sprechen können, ja sogar musizieren.
*
Das Phänomen Zeit entsteht in unserem Kopf. Sie ist das Resultat aus der Wechselwirkung von Raum und Zeit, der Raumzeit. Das heißt so viel, dass weder der Raum eine Konstante ist noch die Zeit. Deshalb verändert sich der Raum unter der Einwirkung von Zeit. Dabei ist der Raum für uns eher fassbar als eine Vorstellung von Raum, der sich unter der Einwirkung von Zeit stetig verändert. Und die Zeit ist für uns eher vorstellbar als ein Fließen von Zeit, wobei dieses Fließen sich auszeichnet durch seine Fließgeschwindigkeit, und sich während dieses Fließens so alles ereignet. So ist Raum keine von außen vorgegebene Form, in dem die Dinge geschehen (Kant). Raum ist für uns das Produkt von Erleben, denn erst die Dinge zusammen mit ihrer Zeit brauchenden Bewegtheit machen für das aus, was wir als Raum auch tatsächlich erleben. Raum also ist Materieverteilung. Ungleiche Verteilung von Materie führt im Bestreben nach Ausgleich zu Energieflüssen, und diese brauchen Zeit. Dabei sind die Fließmenge und ihre Geschwindigkeit abhängig von der Größe und Gestalt des Raums oder umgekehrt der Raum ist abhängig von der Fließmenge und ihrer Geschwindigkeit. Die Zeit in dieser Wechselwirkung verläuft gekrümmt und nicht linear. Dabei gilt: je dichter die Verteilung der Materie, desto stärker ist die Krümmung der Zeit, oder je massereicher ein Körper ist, desto mehr verändert er in seinem Einzugsbereich Raum und Zeit. Daraus folgt, je stärker die Krümmung ist, desto langsamer fließt die Zeit. Aus einer Geraden im Euklidischen Raum wird in der Raumzeit eine Geodäte. Dann sprechen wir von mindestens einer Vierdimensionalität. Daraus folgt für die Aufführung meiner 1. Orgelsonate, dass dort das Verlaufstempo umso mehr schwankt, je ungleicher sich die Klangmasse in einem erlebbaren Zeitraum verteilt. Und das heißt, je komplexer die Klanggestalten sind, desto langsamer fließt die Zeit, oder umgekehrt, je transparenter der Satz durchgehört werden kann, desto schneller fließt die Zeit.
Leonberg, 2004
Opus: 41
Weiße fliegende Mäntel, 8 Zeitbilder aus ZETTEL’S TRAUM von Arno Schmidt, ein Zyklus für Frauenstimme und Klavier (1998) op. 41 – Gesamtdauer 14’ – Erbacher Musikverlag
Weiße fliegende Mäntel
8 Zeitbilder aus ZETTEL’S TRAUM von Arno Schmidt
Ein Zyklus für Frauenstimme und Klavier (1998) op. 41
: “m=Da hättich
gerne noch gewusst : wieso die GroßnhellnFögl, immerfort
‚Tekelili’ schrein=müssen.“; (und blikkte unaussprech-
lich=dedankenlos in die Grüne Runde : (shinebear so))/
(: auf – zettel 34 – (Arno Schmidt : ZETTELS’S TRAUM, I. Buch :
D a s S c h a u e r f e l d oder die Sprache von Tsalal))
&sie müssen=schrein i m m e r k ü r z e r , k ü r zer=schrein,
‚Tekelili’, ... , ‚Tekeli’ ... ; so von Mal zu Mal (nix phon laut nach
immer leiser &so – (was glaubsdennDu :) – willstphielleicht
nurnoch (!) imaginieren, DuSchelm ?!!); müssn=also
immer kürzer=s c h r e i n ; von M a l zu M a l
mit immer WENIGER anhaltender Kraft. So geht’s andie Kraft.
&die wird (nach Kräftn) zu allem shinebearem Überfluß auch
noch umgewandelt. – Wiedänn?
/(Ich wandte mich der
Jungen Dame zu; ( só ’neben=mir’ würde vermutlich
kaum noch Eine je sitzn!( also war sie die Schönste in
I will then go to Pe- dieser Streifenwelt). Ich erklärte ihr, nach Kräftn aus-
tersburg. (BRIEF an druckslos)):“ Was Du meinst? : sind die weißen
Muddy, Sept 49) fliegenden Mäntel Ungarischer Rosshirten.
... &die 8 weißen fliegenden Mäntel
flogn mit mäßiger Kraft/oder mäßig mit Kraft (&istdasnoch immer 1 Frage?)
immer weiter fort ... &
immer-fort –
immerfort :
so also von M a l zu M a l immerkleinkürzer ;&immer kürzerklein - &immer kleinkürz –
‚Tekelili’, ... , Tekeli’ ... ‚Tek’ ... – fort .....
Dabei phaselte sie immer kleinlauter etwas von
S e l b s t o r g a n i s a t i on !
Das war so von 97 auf 98.
MonteLeonis,
Freytag , der 13. ! (Mars)
U: Nicole Bender (Frauenstimme), Jan Czajkowski (Klavier) am 20. 1. 1999, Leonberg, Theater im Spitalhof, Proträt von Walther Erbacher anlässlich des 750. Stadtjubiläums von Leonberg
- zettel 38 - /:“Du sag ma :
/:“Du sag ma : kann man
hier etwa Tollwut kriegen ?!“ ; W ; misstrauisch ; (da sie
von weit drübenher das leise protestierende Bellen
eines Rehböckchens vernommen hatte):/ “Wir haben -
(ausnahmsweise; ich geb’s zu) – zur Zeit keine Sperre
im Kreis. Überdem war’s kein Fuchs oder streunender
Hund; man bloß’n armer Spießer. – ‚Tollwut=Impfung’
Selbst iss übrigens gar nichts Kleines : krixDe
5 Spsritzn; fein symmetrisch um’m Nabel ‚rum - , -
( ja; um den Nabel; Du hast recht gehört) – und der
Bauch schwillt Dir auf ! : siehsD aus wie im 5. Monat.“
“O hör auf von so=was,“ (W unbehaglich
Dauer ca. 2'
- zettel 39 - :“ Sein Waschkorb
:“ Sein Waschkorb ist
ihm nachgegangen : an allen Ballons (und solcher
‚Flugträume’ sind bei ihm ja nicht wenige) – schwebt
unten dieser ‚basket of wicker work’.“ - : „HANS PHAALL“
zischte P; während er seine Persia0Papierne aus
der Tasche riß. (Und ich doch nicht unerheblich upgelankt durch das ge-
lenkig=lange Nebenánda: soll ich, in meinem Alter,
( ’50 Jahre 3 Monde & 3 Tage’, ergab in gewissen nie-
dersexischen Gesetzen den ‚Hagstolz’ !), so=ein Händ-
chen brüsk abschütteln ?! – Ich ssprach lieber schnäll
weiter ):
Dauer ca. 1'30"
- zettel 4o - (W natürlich) :“ Du reitest auf FREUD rum, geldt ?
(W natürlich) :“ Du reitest auf FREUD rum,
geldt ? Der ja die unteren Grenzen der ‚Traumen’ auf
anderthalb bis 2; spätestens 3 Jahre setzt... “./Und ich) : “Zweifelt Ihr da-
ran ? : dass, wenn die Mutter sich besäuft, auch der
Phötuß mit=besoffen wird ? – (Vielleicht,
weil ich dito i’m Waschkorb groß geworden bin)“;
Dauer ca. 45"
- zettel 41 - /Aber selbst P schüttelte den Kopf):
/Aber selbst P
schüttelte den Kopf): “ ...eine Theorie : VulkanAsche.“
(sagte er nüchtern):“ Denk’ an die Wasserwärme,
‚extreme, even unpleasant to the touch’; den ‚Cata-
ract’ –(beziehungsweise ‘curtain’)-aus ‘vapour’, mit
seinem Geflicker & ‚wild flaring up’
Erebus & Terror; / :“Die zur Zeit der Niederschrift
Des GORDON PYM allerdings noch nicht bekannt waren.
- All=Eure Konjekturen in Ehren : aber wie wär’s,
wenn Wir noch ein bisschen beim Theater & der ‚Wasch
korb=Hypothese’ aushielten ? – Übrigens eine schö-
ne Gelegenheit, nu Euch mal der ‚Nüchternheit’ zu
zeihen :
Dauer ca. 1'35"
- zettel 42 - :“ Wer ist DIRK PETERS ?
:“ Wer ist DIRK PETERS ? -:“Er-
laß mir noch für –na, 5, 6 Stunden, Wilma. (Du
erfährst es noch früh genug.) – Noch 1 Frage ?“./-)
: “Noch viele -“,(sagte P, die Zeigefingerkuppe belut-
schend ):“a’so solln ma die ‚vapours’ sein, was sie
wollen .... “./: „VerlangsDu n Foto von mir :’Der
Kleine EDGAR POE im Waschkorb’ ?“:
Dauer ca. 50"
- zettel 49 - „Aber das’ss ausgesprochn=gut Wilma,
„Aber das’ss ausgesprochn=gut Wilma, dass Dir Seine Anhänglichkeit
an das – (entschuldije ; aber es ist eins) – Etym ‚ßier’ aufgefalln
iss. Dein Manko in diesim Spezialfall : Du hasD nich bei der Art’l-
rie gedient...(?)-“/:“Mensch laß die blödn Wizze !“;(zischDe Sie):/(Aber P, demütich -(tz der
Arme ! : bloß weil Er Sich bw war, anmuthich na El Ixier zu dufftn
)):“ Gestatte=Wilmi -: EDGAR POE iss’n paa Jahre bei der Artlrie
gewesen. Und so 5=6 Jahre Millitear ?:gehen an keinem Menschn spurlos vorüber.
Dauer ca. 2'15"
- zettel 5o - / : ’Reise’ ?“/ : “ ’Voyage’.“/ :“ ’Heiliges’ Land ?“/
/ : ’Reise’ ?“
/ : “ ’Voyage’.“/ :“ ’Heiliges’ Land ?“/ :“ ’Holy’.“/ : “Was
’hole’ sei, ahnt Ihr in=zwischen. Und ’voa(ag)ieren’
ebenphalls : ’n ’Seher’ iss ja man ooch bloß ne andre
Sorte ’Voyeur’ -“:/(denn da ruckte es auch schon an meinem Hosenbein, und erkundig-
te sich, ganz=deutlich, inder Zupfsprache : Iss’
nn das ?’.)/(Ich vertröstete, im Oberschenkel=...Slang : ’Das
erfähSDu heut noch ; und wahrscheinlich ausgiebig.
Dauer ca. 1'10"
- zettel 51 - :He ! GORTSTCHWZYB !? vorbei; ’caudam jactans’ der Schweifschwinger
:He ! GORTSTCHWZYB !? vorbei; ’caudam jactans’, der Schweifschwinger; (MONI-
KINS i, 175))/:“ Ich hatte gehofft Wilma, Du betrach-
test mich als einen, in Eurem Interesse POE=Anmerkung-
en hervorbringenden Apparat : ich leiste, (wie ich sehe
undankbarste),Recognoscierungs=Arbeit; ich erkläre, bald
euhemereristisch, bald von unterhalb der Schwelle; ich zi-
tiere aus einem, Euch nach eigenem Geständnis nicht=ge-
Auf der Süd=Seite der läufigen, raren Buch...“ -/)“ ’ntschuldije Denn –„,(bat W
Welt regiert schon auch schon): “ ich meine ’iss das gemein’ ; (nich ’bißDu’). Aber
nach der EDDA ( das ist wie iss dänn=das : hattsDu früher nich ma selber geschrie-
‚Großmutter’) SURTUR bm ...“ (sie schwängte ob meines Steinblixs dissimulierend
der Schwarze/Cham die Fetthändchen) :
Dauer ca. 2'45"
*
Arno Schmidt :
Z E T T E L ' S T R A U M
1963-69
1. Buch : Das Schauerfeld, oder die Sprache von Tsalal
- zettel 35 -
"Und da sind wir nun bei
DP's, infolge ebm ihrer - (ja 'Arbeitsweise' iss
viel zu gutmütig für Der=ihr fröhliches 'Die Karre
laufn lassn' & alles ins Mythische zu verhunzn ) - ihre
Art, möglichst auf Traumbasis zu schreibm also,
leistet eine Mehrstimmigkeit im höchsten Maße vorschub.
Daß, wie schier stets bei ihm - (POE) - so auch hier, im
Falle Tsala', ganze Quintette von Bedeutungen durch-
einander klingen, ist nicht sein Verdienst : er hat
es nicht, als Autor, bewußt herbeigeführt !: Mo-
ment, Wilma : Er hàt=natürlich, (wie jeder echte Künst-
ler, Zeit seines Lebens), bei jeglichem Anlaß, etwa
das 5=fache eines Normalen gesehen; und sich
auch 3=mal soviel davon gemerkt (& sei beides
noch so ubw erfolgt)."/
(W leicht ironisch): " Demnach dürfte Dein 'echter Kün-
stler', unter anderem, eigentlich keine längeren Rei-
sen vertragen : wär'er doch, schon in ein paar Tagen,
dann so voll mit Bilder-Eindrückn -"/." Du, das stimmt
auch," (P, grüblerisch. )/(Und ich rundete's):" Sehr=wohl :
'Wer lange Reisen aushält, ist kein großer Künstler'."/
:" Och Ihr seid ja meschugge."(Beide): "Ich jednfalls
würd gern ma ne Weltreise machen."/ (Na, was sagt Dein
Züngel ?)/- : " Ich auch ..", sagte es trotzig.)/(Tja, si-
cher. )/ : "Und wenn De's genau wissen willst,Dän :
Deine Betrachtungen & Maxim'm sind das Feinsinnigste vom
Feinsinnign : red jetzt nicht mehr drum=rum;
sondern von der Puschta." : "Also ich be-
haupte mit nichten, daß ER jemals die Füßchen in den Großen
Bálaton=selbst getunkt habe. Dafür aber möchte ich festhalten :
daß Anno 1769 ein großer Ungarn=AAufstand entbrennt(?) - " :
/: "Ohne welchen dem Jahre 79 ja gleichsam etwas ge-
fehlt hätte" zitierte P, nicht unwitzig: " Damals regierte Wer/?"/
: in Öst'reich n gewisser Leopold. - Man erhob sich,
wie üblich pro libertate: und war Anfang 1982 Unterstützt von 'Transsylva-
niern' & Türken unter dem
Pasche von Nagyvárad; so
weit, daß der
jugendlichen Anführer, IMRE THÖKÖLY,
den der wiener Kaiser zum Waffenstillstand nöti-
gen konnte. Gleich darauf heiratete er – (eine HE-
LENE ZRINY übrigens)-“/:) “ Wie die vom KÖRNER ? ; (W. kritisch.)/: “nie gehört, das
Ganze Zeugs. Weiter.“; (P kopfschüttelnd. Er schrak denn auch etwas
Er fragte :“ ’Thököly’ ? - :!“/
“Stellt Euch das Ganze noch illustriert vor : wie
sie, mehr Räuber als Schäfer, die weißen Umhänge
schwingen & dazu tokayern ’Thököly !’ brällen –
(’durch Accklamation wählen’ nannte man das damals).
Opus: 42
Auf der Lichtung, ein Gedicht von Christian Wagner für Streichtrio mit Sopran und Sprecher (Christian Wagner) (1998) op. 42 – 10’15“ – Erbacher Musikverlag
Auf der Lichtung
Ein Gedicht von Christian Wagner
Streichtrio mit Sopran und Sprecher (Christian Wagner) (1998) op. 42
Da gibt es eine Sopranistin, die das Gedicht Auf der Lichtung von Christian Wagner singt, einfach so. Nichts Aufregendes. Einfache Naturlyrik des „Bauern und Dichters zu Warmbronn“, nichts weiter. Singt da vom „Sommermittag auf dem Hochwald“, von „Lichtgedanken“, von „Geisterfaltern“ und „Wunderboten“. Ein Streichtrio begleitet sie. Und das spielt lauter Palindrome, klassische Palindrome und Zeitpalindrome. Die klassischen befinden sich von vornherein im Gleichgewicht und ergeben vorwärts wie rückwärts gelesen Dasselbe, während die Zeitpalindrome asymmetrisch, nicht also spiegelsymmetrisch, verlaufen, streben sie ihrem Gleichgewicht erst noch entgegen. Daher befinden sie sich, solange sie ihrem Ende zustreben, noch immer nicht im in ihrem Ende und das ist das Gleichgewicht. In den asymmetrischen Palindromen wirkt sich die Zeit aus. Zeitpalindrome stellen also, weil sie sich im (Materie)Fluss befinden, keine Zustände dar sondern Prozesse wie das Leben, das vergeht, oder die Materie, die zerfällt, oder die Energie, die erlischt. Welt, wenn auch nur ein kleiner Teil von ihr, eine Lichtung, ist nicht einfach da, sondern ist entstanden und verändert sich ständig solange, bis sie wieder vergangen ist, irgendwann. Eine Lichtung ereignet sich ebenso, wie sich die Welt ereignet. An ihrem Ende sind beide in ihr Gleichgewicht gelaufen. Ihre Zeit ist dann erloschen. Kurz zuvor singt die Sängerin noch davon, dass „ihr im Banne laget bei den Toten“. So entsteht aus vergangenem Leben ein neues, und das nicht nur auf der Lichtung.
Und da gibt es noch einen „Bauern und Dichter zu Warmbronn“, den kaum jemand kennt. Der tritt auf in der Rolle des Sprechers und liest Bruchstücke aus seiner Autobiographie „Aus meinem Leben“, lauter „Geflechte dunkler Brombeerranken“. Das macht er vor und nach dem Gedicht, von Anfang an, immer wieder unterbrochen von der Musik. Oder unterbricht da etwa Christian Wagner selbst die Musik? Geld, so herum ist’s gut, denn den „Bauern und Dichter zu Warmbronn“ kennt ja doch kaum jemand.
Auf der Lichtung ist im Oktober 1998 für die Feier zur Verleihung des Christian-Wagner-Preises am 21. 11. 1998 an Karl Mickel in Leonberg entstanden.
U: Anja Mezger (Geige), Astrid Littmann (Bratsche), Mareike Wedler (Violoncello), Nicole Bender (Sopran), Werner Georg Thumm als Christian Wagner (Sprecher). 21. 11. 1998 anlässlich der Verleihung des Christian-Wagner-Preises 1998 an Karl Mickel, in der Steinturnhalle Leonberg
Opus: 43
et ensuite? ... (und was dann? ...) für Solo-Flöte, zwei Hörner und drei Gruppen von Streichern ohne Kontrabass (2000) op. 43 – (12. Gg.¸ 3 Br., 3 Vc.) 1./2. Gg., 3./4. Gg., 1. Br., 1. Vc./ 5. 6. Gg., 7./8. Gg., 2. Br., 2. Vc./ 9./10. Gg., 11/12. Gg., 3. Br., 3. Vc. – 10’15“ – Erbacher Musikverlag – Paritur + Aufführungsmaterial
et ensuite? ... (und was dann? ...) für Solo-Flöte, zwei Hörner und drei Gruppen von Streichern ohne Kontrabass (2000) op. 43
1./2. Gg., 3./4. Gg., 1. Br., 1. Vc.
5./6. Gg., 7./8. Gg., 2. Br., 2. Vc.
9./10. Gg., 11./12. Gg., 3. Br., 3. Vc.
Ensuite ist französisch. Der zeitliche Aspekt von ensuite bedeutet soviel wie dann, danach, darauf, nachher, hernach, hinterher, anschließend, sein räumlicher Aspekt bedeutet soviel wie dann, dahinter, hinterher, hintendrein, in übertragenem Sinn bedeutet ensuite soviel wie ferner, außerdem. Und Et ensuite?: Und (was) dann? Hat das 'dann', also das 'Et ensuite', trotz aller sprachlichen Ähnlichkeit vielleicht doch irgendetwas mit der musikalischen Gattung einer Suite wie gehabt zu tun? Deren platte Existenz in Form einer simplen Reihung ohne Ziel und Entwicklung kennen wir (von damals) zur Genüge. Sie bestimmte eine ganze Epoche. Das reicht. Wir brauchen keine Auferstehung. So gut war die Suite auch wieder nicht. ... und was folgt dann? danach? hinterher?
*
et ensuite? ... (und was dann? ...) ist im April 2000 für den prächtigen Renaissancebau der evangelischen Stadtkirche in Leonberg entstanden. Der Klang von Et ensuite? ... ist auf den Raum hin als Raumklang komponiert. Der Streicherklang ist dreigeteilt und entsteht an dreierlei Raumpunkten, sodass vom Hörer zu den in schwankender Dichte komponierten Streichergruppen noch verschieden lange Schalllaufzeiten wahrgenommen werden. Durch Wanderungen des spielenden Solo-Flötisten zwischen den Streichergruppen wird der an sich statische Raum über ein mechanisches Raumerlebnis hinaus auch zu einem zeitlichen Erlebnis, zu einem Erfassen von Raum u n d Zeit, weil der Flötenklang im Raum wandert, der Streicherklang nicht. Und dennoch sorgen die Streicher für ein Raumklangerlebnis, wenngleich die Zeit eine nur kaum merkliche Rolle spielt. In diesem Spannungsfeld von Raum und Zeit – mal mehr erlebter Raum in unbewusster Zeit, mal mehr Zeitdominanz vor kaum wahrgenommenem Raumerlebnis – wirken die beiden Hörner als Klangzentrum. Seltsam, dass wir gerade sie in diesem Klangumfeld trotz ihrer nahezu punktförmigen Schallquelle, die normalerweise eher ein Raumgefühl verhindert als fördert, ganz besonders stark auf den Raum bezogen wahrnehmen. Möglich, dass die um ihren Klang herum höchst different schwankenden Schalldruckverhältnisse viel stärker wahrgenommen werden als sie in Wirklichkeit sind, und somit im Ohr zu einer gewissen lateralen Inhibition führen, die den Klang der Hörner zum besonders wichtigen Attraktionspunkt macht.
*
Aufstellung
Die beiden Hornisten sitzen unmittelbar über den Altarstufen vor dem Altar. Sie überragen die Streicherguppen, die im Kirchenschiff unterhalb der Chorstufen zwischen den Zuhörern sitzen. Allein schon dadurch werden die Streichergruppen völlig anders wahrgenommen als die Hornisten, auch durch das andere Licht im Schiff. Der Flötist bringt Bewegung ins Geschehen. Mit seinem Spiel wandert er zwischen den Streicherguppen hin und her, wodurch ein besonderes Spannungserlebnis entsteht zwischen dem stationären Klang der Streichergruppen und dem mobilen Klang der Flöte. Sich entfernen und sich annähern von einer Streichergruppe zu einer anderen macht auf das 'Hören im Raum' auf besondere Weise aufmerksam: Im Spannungsfeld zwischen stationären Klangquellen und der mobilen Klangquelle wird Raum nicht mehr als etwas unveränderlich Vorgegebenes, als etwas Statisches, sondern als etwas Veränderliches, als etwas in Abhängigkeit vom Klang Bewegliches erfahren.
*
Die unübliche Besetzung von zwei Geigen pro Stimme ist bewusst gewählt. Bei dieser Zusammenstellung lassen sich geringfügige gegenseitige Verstimmungen nicht vermeiden, was ausdrücklich erwünscht ist. Außerdem sind, was alle Streicher betrifft, einmal durch die räumliche Trennung ihrer Aufstellung im Raum auftretende minimale Zeitversetzungen unvermeidbar. Ihr klangliches Ergebnis wird sogar nicht nur als unvermeidlich hingenommen, sondern als besonders reizvoll empfunden. (Man denke an die unterschiedlichen Anfangsbedingungen von Unschärferelationen, die in ihrem weitern Verlauf zu gewissen Streuungen führen). Der Streicherklang entsteht über das ganze Stück hinweg nur sordiniert. Dabei ist der Klang aber keineswegs eintönig. Er zeichnet sich in seiner Zartheit aus durch die Mischung unterschiedlicher Spielarten.
Leonberg 2. 5. 2000
U: Carsten Hustedt (Flöte), Kammermusikkreis an der Stadtkirche Leonberg, Christoph Martin (Ltg.); 16. 9. 2000 in der Stadtkirche Leonberg
Opus: 44
Halo, Ensembles für Sopranino (es’), Sopransaxophon (b), Altsaxophon (es), Tenorsaxophon (B), Baritonsaxophon (Es), Baßsaxophon (,B), nacheinander oder (teilweise) gleichzeitig zu spielen (1998/99) op. 44 – von ca. 8’ – 20’ – Erbacher Musikverlag
Halo (1998/99)
Ensembles für Sopranino (es’), Sopransaxophon (b), Altsaxophon (es),
Tenorsaxophon (B), Baritonsaxophon (Es), Basssaxophon (‚B)
Nacheinander oder (teilweise) gleichzeitig zu spielen op. 44
Gestern Abend war Winter. Wattierte Stimmung weil Nebel und Schnee. Um diese Jahreszeit ist es normalerweise schon längst dunkel. Der Nebel ist überraschend hell, fast taghell. Seine Wassermoleküle reflektierten, beugten und brachen die Strahlen künstlichen Lichts, eben das der nächtens erleuchteten Stadt.
Der Halo ist eine optische Erscheinung um eine Lichtquelle, ein Hof. Er entsteht durch Reflexion, Beugung und Brechung der Lichtstrahlen in den Wassermolekülen leichter Nebel und Wolken. Dabei wirken diese Wassermoleküle wie Prismen, in denen das Licht zerlegt wird. Von der Größe der Wassermoleküle hängt der Durchmesser des Lichtkranzes um die Lichtquelle ab.
*
Das idealtypische Ensemble, so hat man einst gehört, zeichnet sich in allen Aspekten durch die Nichtwirksamkeit von Zeit aus. Dies ist eine Täuschung, denn Zeit wirkt immer. Wir können nicht annehmen, Zeit habe dort ausgesetzt, wo wir ihre Wirkung nicht erkennen. Denn übte die Zeit, solange ein Zustand dauert, keinen Einfluss aus, so müsste dieser Zustand letzten Endes ewig dauern. Zeit und ihre Wirkung wären dann also suspendiert. Und das wäre ein Paradox: Wie kann ausgerechnet die suspendierte Zeit über die Dauer ihrer Suspension bestimmen! Zeit gerät also niemals ins Stocken, sie fließt an sich gleichmäßig dahin. Wir wissen dies a priori. So verfügen wir auch über die Gewissheit, dass kein Zustand, und mag er noch so lange dauern, ewig besteht. Mit den Ensembles verhält es sich genauso. Was kümmert’s also die Zeit, ob in ihrem Ablauf irgendwo so etwas wie ein Ensemble herumschwimmt? Die Zeit behält ihren Fluss dessen ungeachtet unberührt bei. Und weil sich ein Ensemble in der Zeit befindet und nicht außerhalb, geht es immer zusammen mit der Zeit. Daher ist kein einziges Ensemble mit Stillstand zu beschreiben. Es ereignet sich, und sein Verlauf wird deshalb vom Ablauf der Zeit bestimmt. So ist der Zustand eines Ensembles mancher Anschauung zum Trotz instabil. Das System hat also eine Verlaufsform und diese ist nur noch auf die Beschaffenheit der Instabilität hin zu diskutieren und nicht mehr auf Stabilität und deren Linearität, die das System vorhersagbar macht. Das System nimmt einen nichtlinearen Verlauf und ist deshalb unvorhersagbar geworden. Es bewegt sich in einem Zustand fern vom thermodynamischen Gleichgewicht. Dieser Verlauf verhält sich in konzeptioneller Hinsicht ähnlich der gekrümmten Raumzeit in der Allgemeinen Relativitätstheorie. Die so entstandene Unvorhersagbarkeit gilt zumindest a priori für alle aus Materie bestehenden Organisationsmuster wenn nicht auch für alle nicht aus Materie bestehenden, so auch für die musikalischen. Das, was das Schöpferische ausmacht, ist die unter entsprechenden Bedingungen Wirklichkeit gewordene Manifestation latenter und bereits präexistenter Muster zu neuen Organisationsmustern. Die musikalischen Gedanken und Vorstellungen werden von der materiellen Wirklichkeit insofern konstituiert, als sie das Ergebnis eines Rückkoppelungsprozesses darstellen aus wild wuchernder Fantasie und funktional-materieller Organisations-vorstellung. So bindet sich zum Beispiel eine Tonvorstellung immer an ein bestimmtes Obertonspektrum, und das ist nur im tatsächlichen Schall, also in der Materie, nachzuweisen.
Leonberg, 19. 2. 1999
U: Nicola Lutz mit ihrem Saxophon-Ensemble in Stuttgart und Leonberg 2000
Opus: 45
2. Orgelsonate „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (1999) op. 45 – 16’ – Erbacher Musikverlag
2. Orgelsonate
„Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (1999) op. 45
Der Verlauf meiner 2. Orgelsonate ist Selbstorganisation aus einem Prozess von lauter Zeitpalindromen. Zeitpalindrome verlaufen asymmetrisch und brechen die Symmetrie. Deshalb verlaufen sie irreversibel und entwerten sich fernab vom vollkommenen Gleichgewicht. Der Lauf in ihr Ende ist ein kontinuierlicher Prozess. Er läuft in die Auflösung aller Ordnung. Am Ende steht Chaos. Klassische Palindrome dagegen befinden sich im absoluten Gleichgewicht. Ihre negativen Stränge verhalten sich zu den positiven umgekehrt proportional wie auch umgekehrt die positiven zu den negativen. Klassische Palindrome sind spiegelsymmetrisch. Sie hören umgekehrt proportional genau so auf wie sie begonnen haben. Weil Anfang und Ende retroflexiv gleich sind, haben klassische Palindrome keinen Schluss. Zeit wirkt sich in ihnen nicht aus. Zeit ist in ihnen suspendiert. Im Zeitpalindrom wirkt sich Zeit aus. In ihm sehe ich ein perfektes Mittel lebensnahe Vorgänge abzubilden.
*
Meine 2. Orgelsonate umfasst drei Großzyklen von jeweils mehreren Minuten Dauer. Die Wirkungsfelder sind zu Prozessbeginn am größten. Je weiter der Weg in Richtung Entropie fortschreitet, desto geringer werden die Energiepotentiale. Dabei geht anfängliche Ordnung über in Chaos. Und das bedeutet hier, je weiter der Prozess fortschreitet, desto kürzer und umso komplexer, werden die Großzyklen meiner 2. Orgelsonate sowie alle Unterodnungen bis zu ihrer Auflösung. Dabei beginnt noch jeder Zyklus in größtmöglicher Stabilität. Weil aber der Verlauf der Zyklen das Ergebnis eines asymmetrischen selbstorganisierenden Prozesses ist, wird jeder Großzyklus gegen Ende immer instabiler und er beginnt unter dem Einfluss von immer heftiger verlaufenden Ozillationen immer chaotischer zu verlaufen, was schließlich die Aufspaltung der Sträne und ihre Phasenverdoppelung im folgenden Großzyklus bewirkt. Auf diese Weise werden aus zwei zeitgleich ablaufenden Strängen vier Stränge, dann nach weiteren Oszillationen aus vier zeitgleich ablaufenden Strängen acht Stränge. Auf einen weiteren Großzyklus habe ich verzichtet, weil eine Komplexität von 16 zeitgleichen Strängen undurchdringlich und das Stück unspielbar geworden wäre. Das Zeitpalindrom des ersten Großzyklus meiner 2. Orgelsonate ist die Grundformel für den gesamten weiteren Verlauf (ohne Choral). Aus ihr entwickelt sich alles Folgende.
*
Eine Krankenpflegerin meines Vaters hat beobachtet, wie er bereits zwei, drei Tage vor seinem Tod sich vom Leben zu lösen begonnen hat. Dies ist sicherlich eine Übergangsphase, wie die der immer heftiger werdenden Oszillationen als Hinführung zur Phasenverdoppelung und damit zur Hinführung in einen neuen Großzyklus, eine Zwischendimension, die den Übergang vom einen Zustand, z. B. das Leben, in den nächsten Zustand, den nach dem Leben, den wir Außenstehende als Tod erleben, beschreibt. Seltsam, dass mich die Nachricht von seinem Tod gerade da erreicht hat, wo der zweite Großzyklus in den dritten übergeht. Der eine Zustand hat sein Ende erreicht, ein neuer, in seinem Verlauf nicht vorhersagbarer beginnt. - Den Hymnus aus der Pfingstliturgie „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ habe ich an dieser Stelle eingefügt. Er wurde auch im Trauergottesdienst gesungen.
Leonberg, 4. 10. 1999 / 29. 12. 2001
Opus: 46
3. Orgelsonate „Fraktale“ (2000) op. 46 – 5 Sätze – 16’20" – Erbacher Musikverlag
3. Orgelsonate Fraktale (2000) op. 46
Kulturpreisverleihungen pflegen gefeiert zu werden. Und leiht man beim Stehempfang den unvermeidlichen Spöttern sein Ohr, ... - meistens leiten diese ihren Dialog mit gespielter Plumpvertrautheit ein: "... wie schaffen Sie es nur, den Appetitthappen, das Sektglas, die Serviette, die Handtasche und ... zu halten?!“ Ob der Herausforderung erklärt man sich, und schon hat's der Typ geschafft: er bequatscht mich, und schon kann ich mich seiner Vereinnahmung nicht mehr erwehren. Ich zapple wie die Fliege im Spinnennetz. "Freilich, nun leider" - ich hab's geahnt! -, "feiern wir alle die falsche Person, denn - mal ganz ehrlich - verdient hätte ja eigentlich ... !" Na also: Jetzt hat dieser subversive Fiesling sein Ziel erreicht! Seine große Stunde schlägt. Er beugt sich an mein Ohr und streut 'Fakt' auf 'Fakt', höchst vetraulich, versteht sich. Jetzt läuft er sich so richtig warm! Er läuft zu großer Form auf. Und ich habe keine Chance aus seinen Fängen herauszukommen! Jetzt macht er mich sogar zum Mitwisser seiner 'eindeutigen Fakten', und nötigt mich gar der Mitverschwörung, weil auch ich jetzt weiß, dass ... " Folgerichtig fordert er mich auf, ja er verlangt von mir, mit ihm zusammen endlich etwas gegen diese Anderen zu tun, diese Heuchler (!), ja ich soll jetzt - ausgerechnet ich! - unbedingt ein Zeichen setzen, denn schließlich sei ich ein Mann von Charakter, auf dessen Meinung man immer gern hört, und, nicht zu vergessen: schließlich sei ich eine Autorität, weil ein Mann vom Fach! Und so verbeißt er sich weiter ..., lässt nicht locker, steigert sich, läuft rot an, schwitzt, stampft mit dem Fuß auf, droht mir! Es ist wie verhext: Ausgerechnet jetzt, wo ich so dringend Hilfe brauche, ist niemand Bekanntes in meiner Nähe, niemand spricht mich an! Ich bin verzweifelt, was soll ich tun? Soll ich aufs Klo müssen?! ... wie peinlich. Wegen solcher 'Gespräche' sind Kulturpreisverleihungen nicht immer von Kultur.
Von Kultur – ich habe jedenfalls nichts anderes erlebt – war die Kulturpreisverleihung an Gotthold Krämer. Er, der ehemalige Bezirkskantor und Initiator so vieler musikalischer Aktivitäten, hat sich um Leonbergs Musikleben bleibend verdient gemacht. Das wird von den Meisten der im Saal Versammelten so gesehen. Deshalb muss ihm auch niemand den Preis neiden, was mich für ihn, weil ich ihn und das, was er geleistet hat, sehr schätze. Neider hatten also dieses Mal keine Konjunktur. So verlief die Kulturpreisverleihung dieses Mal eben nicht nur 'im Großen und Ganzen' harmonisch, sondern sie war harmonisch. Und dabei habe ich mich gleich über zwei höchst unterschiedliche Dinge gefreut: Zum einen wurde ich - schon fast kleinlich von mir beobachtet - Zeuge davon, wie virtuos Konrad Mühleisen, Orgelbaumeister und Miteigner der gleichnamigen Leonberger Orgelbaufirma, mit seinem Glas, seinem Appetithappen und seiner Serviette umgegangen ist. Also ein Mann von Gewandheit und Stil. Dabei unterhielt er sich locker und fröhlich mit wechselnden Partnern, woraus ich schloss, dass er mit der Entscheidung, Gotthold Krämer den Preis zu verleihen, einverstanden war, was auch stimmte. Das war das Eine, was mich gefreut hat. Gefreut hat mich dann auch, dass Konrad Mühleisen mein zum Beschluss der Feier von Carsten Hustedt als Solisten gespieltes „et ensuite ? ... (und was dann?)“ für Solo-Flöte, zwei Hörner und drei Streichergruppen op. 43 so sehr gefallen hat, dass er mich im Menschengewühl gesucht und gefunden hat, um mich zu beglückwünschen und mir mitzuteilen, wie sehr er sich allein schon über die Vorstellung freute, ich würde etwas für seine Orgeln komponieren. Was er brauche, seien mehrere Stücke, um die Möglichkeiten, die in einer „Mühleisen-Orgel“ steckten, zum Beispiel bei Orgelvorführungen und -einweihungen vorzustellen.
Weil ich gerade „Platz“ hatte und den Gedanken so sehr gut gefunden habe, habe ich mich unmittelbar danach an die Arbeit gemacht. Ergebnis: Es entstand eine Sonate von fünf Teilen: die 3. Orgelsonate „Fraktale“ op. 46. So hoffe ich, dass der Klang dieser Sonate mit der Vorstellung von Konrad Mühleisen übereinstimmt, indem (Zitat Mühleisen) „der Klang eines Instrumentes auch viel mit dem Lebensgefühl und der Lebensweise zu tun hat“, denn „wenn ich in Italien nach dem Gottesdienst oder einem Orgelkonzert aus der Kirche komme, möchte ich in typisch italienischer Atmosphäre auch mal einen Rotwein trinken können!“ Soll er das doch auch mit einem Württemberger tun können! Er soll – das erhoffe ich – jetzt dafür einen Grund mehr haben!
Leonberg, 28. 11. 2000
U: Katrin Abakumova, 24. 3. 2007, im Bolschoj Saal der Russischen Staatlichen Gnessin-Musikakademie Moskau
Sinn und Zweck der Registrierung meiner 3. Orgelsonate „Fraktale“ op. 46
Das Erstellen einer musikalischen Konfiguration für ein Orgelstück beschränkt sich nicht nur auf das Ordnen von Tonhöhen und Tonlängen nach ihrer Bedeutung für die Dramturgie und den Klang des Stücks, auch nicht nur auf das Ordnen von Dichtegraden, von Intensitäten und mit ihnen verbunden von dynamischen Verläufen, sondern zu einer musikalischen Konfiguration eines Orgelstücks gehören meiner Vorstellung nach genauso auch die Ordnung, wie man mit Registern und ihren Farben umgeht, die konstruktiv als strukturelles Element im Sinn der Komposition einzusetzen sind. Letzteres ist der Ausgangspunkt für das von Konrad Mühleisen bestellte Stück (s. o.). Er wollte ein Stück haben, das möglichst umfassend die Registerfarben (seiner Orgeln, was schließlich auch für jede andere Orgel gelten mag) und ihre Mischungen zur Geltung bringt.
Deshalb gilt für meine 3. Orgelsonate: Jede Struktur (A, B, C, D usw.) erhält eine spezifische Grundregistrierung. In ihrem Verlauf wird sukzessive soweit aufregistriert, bis am Ende der angereichertste und farblich durchmischteste Klang erreicht ist. Und das bedeutet für den Verlauf, dass am Stand der Aufregistrierung und am Grat der Durchmischung zu erkennen ist, wie weit der Prozess gediehen ist. Denn solange noch aufregistriert wird, ist die Struktur noch nicht zuende. Klangfarbe und Verlauf gehen eine sich bedingende konstruktive Beziehung ein. Klangfarbe in meiner 3. Orgelsonate ist keine von allen Bindungen nur losgelöste Erscheinung sondern eine gleichberechtigte Bezugsgröße zu allen anderen Bestandteilen, aus denen sich eine Komposition zusammensetzt. Damit ist die Klangfarbe fest verbunden mit dem Verlauf der Komposition.
Vieles spricht dafür, dass wir einen musikalischen Raum nicht allein erleben als ein Gebilde von ganzzahligen, integralen Dimen-sionen. Seine Realität erleben wir oft als gebrochene, eben nicht ganzzahlige Dimensionen. Solche Dimensionen sind fraktal. Fraktale Timbres werden in einer Orgelregistrierung insofern erreicht, indem eine Grundregistrierung mit Aliquoten oder Mixturen aufregistriert wird. Weil Aliquoten bestimmte Obertöne unüberhörbar stark hervorheben und die Mixtur eine Stimme in mehrere gleichzeitig erklingende Töne aufteilt, verleihen diese gemischten Stimmen dem Klang Dimension. In ihnen bricht sich der Klang prismengleich und projiziert ihn mitunter weit weg vom geschriebenen Notentext. (Ist ein zusammengeknautschtes Papier noch immer zweidimensional oder bereits als dreidimensionaler Körper wahrzunehmen? Wenn man es glatt streicht, ist’s zweidimen-sional).
Indem das Prinzip der dimensionalen und der zeitlichen additiven Mischung in einer systematischen Aufregistrierung angewendet ist, entwickelt sich der ständige Wechsel von Timbres zu einem unumkehrbaren Prozess. Deshalb auch sind die Farben in meiner 3. Orgelsonate keine Beschreibung bloß emotionaler Zustände sondern sie sind Indikator für den Moment, den ein Prozess bereits zurückgelegt hat. Somit erweist sich die Registrierung als Integral des Formverlaufs.
Die Grundregistrierungen verfügen weder über Aliquoten noch Mixturen. Die Grundregistrierungen sind in der Hauptsache zusam-mengestellt aus Labialen von enger Mensur, auch von mittlerer Mensur, Plenozungen, und Solozungen. Alle diese Register zusammen sollen überwiegend einen Klang mit hoher Klangkrone ergeben. Zu jeder Struktur treten während ihres Verlaufs dem Prinzip der additiven Aufregistrierung folgend zuerst Aliquoten dann Mixturen hinzu. Dabei beginnt man in der ersten Zuregistrie- rung (Struktur A eines jeden Satzes) mit der Aliquote von einfachstem Zahlenverhältnis. Die Zahlen- und Klangverhältnisse nehmen an Kompliziertheit stetig zu (von Struktur A bis Struktur J).
Hat ein solcher Prozess sogar die Tendenz, ins Chaos zu laufen, so kann man beobachten, dass er dorthin in Phasen läuft. Die Strukturen dieser Orgelsonate erweisen sich in Ansätzen als solche Phasen, denn für den Gesamtverlauf eines Satzes ist charakteristisch, dass die Phasenenden, das sind die Strukturenden, gleichzeitig von je zwei Energiezentren zunehmend attrahiert (angezogen) werden. Dies äußert sich in Oszillationen, die an Heftigkeit solange zunehmen, bis sich die Phase gabelt (Bifurkation). Darauf folgt die nächste Struktur mit stabilem Beginn und mit neuer Grundregistrierung, der dann neue Aufregis- trierungen folgen, um sich an ihrem Ende erneut zu gabeln.
Leonberg, 6. 12. 2000
Opus: 47
Cembalosonate „Zeitpalindrome“ (2000) op. 47 – 3 Sätze – 8’ – Erbacher Musikverlag
Cembalosonate (2000)
„Zeitpalindrome“ op. 47
Ich will mit der Struktur eines Palindroms einen Prozess darstellen. Doch das absolute Gleichgewicht des \'klassischen Palindroms\' - in ihm ist der eine Strang das krebsförmige Spiegelbild des anderen und sorgt damit für Kräfteausgleich - steht im Widerspruch zur Bewegtheit des \'Zeitpalindroms\'. Im Zeitpalindrom herrschen Nichtgleichgewicht und Asymmetrie, also Symmetriebrechung. Damit kann es Prozesse beschreiben, sogar dissipative, also solche, die lange Zeit nahezu linear verlaufen, um dann jedoch um den Preis der Linearität (= Vorhersagbarkeit) gegen ihr Ende umso zunehmend steiler ins Unvorhersagbare abzustürzen.
Zum \'klassischen Palindrom\': Klassische Palindrome stellen sprachlich ein Sinnbild einer Schreibkultur oder eine Reihe von Phonemen dar, die vorwärts wie rückwärts gelesen einen Sinn ergeben, denselben oder einen anderen. Doch durch ihre streng spiegelbildliche Konstellation kann kein Energiefluss aufkommen. auch wenn man\'s gern hätte. In ihm herrscht Gleichgewicht. So kann sich Zeit nicht auswirken. Zeit fließt nicht im selben Maß vor wie auch zurück. Zeit bewegt sich vorwärts. Für einen Prozess ist das allerdings Voraus-setzung. Daraus ergibt sich aus thermodynamischer Sicht, dass alle Energiepotentiale zu Prozessbeginn noch am stärksten sind. Mit dem Prozessverlauf entwerten sie sich fortschreitend, während der Entropiewert gleichzeitig spiegelbildlich zunimmt. Deshalb kann kein Prozess zur Ruhe kommen, jedoch nicht bevor seine Energien sich entwertet haben. Das bedeutet aber auch, dass der Entropiewert stetig so lange ansteigt, bis sich alle anderen Potentiale entwertet haben. Dann erst ist der Extremwert der Entropie erreicht. Dann erst ist der Prozess zu Ende und seine Materie ist zerfallen. So ist Ruhe, ist Gleichgewicht eingekehrt. Das Zeitpalindrom ist dann also dort angelangt, wo sich das \'klassische Palindrom\' schon immer befunden hat. Daraus ergibt sich: Stillstand oder Ruhe ist also keine Ausgangsbedingung sondern Ergebnis, Ergebnis aus vormaliger Bewegung.
Um aus dem klassischen Palindrom des Gleichgewichts ein kräftewirkendes Zeitpalindrom zu formen, muss das klassische oder linear verlaufende Palindrom sich vom Gleichgewichtszustand entfernen. Dabei kommt dann umso mehr Bewegung auf, je weiter ab vom Gleichgewicht der Prozess verläuft. Ein solcher Prozess nimmt einen nichtlinearen, dissipativen und irreversiblen Verlauf. Dem klassischen Palindrom jedoch ist jegliche Nichtlinearität, Dissipation und Irreversibilität fremd. Deshalb kann seine Struktur auch keine Bewegung sondern nur einen Zustand beschreiben. In einem Zustand gibt es keinen Fluss der Kräfte. Kein Zeitpalindrom verläuft linear und krebsförmig gespiegelt. Weil Zeit in alle naturgegebenen Systeme eingedrungen ist, verlaufen alle diese Prozesse – und das ist geradezu tautologisch – prinzipiell in die Entropie.
Nebenbei angemerkt: In allen Zeitpalindromen verlaufen beide Stränge, der positive wie auch der negative, umgekehrt asymmetrisch in systembedingt unterschiedlicher Länge ab. Beide Stränge dissipieren in der Zeit und die fließt vorwärts. Also verfügt jeder Strang zu seinem Beginn - egal ob vorwärts oder rückwärts laufend - über die meiste Energie. Und das führt zur Asymmetrie. Daher ist die Frage, ob man bei Zeitpalindromen überhaupt noch von Palindromen im ursprünglichen Sinn sprechen kann.
Leonberg, 7. 1. 2001
U: Christoph Martin; 26. 1. 2002; Stunde der Kirchenmusik, Stadtkirche Leonberg
Das Leben beginnt sich zu leben, lebt sich und lebt sich vor allem zu Ende. So ist das. Diese Vorstellung ist tautologisch. Nicht tautologisch dagegen ist, dass das Leben nicht ist, indem es nur ist, sondern dass es in seiner Existenz sich entwickelt und vergeht oder dass es Entwicklung und Vergehen ist in Einem. Leben also ist kein Zustand sondern Bewegung. Prozesse nehmen einen Verlauf. Doch welchen? Prozesse können mal so oder so verlaufen, und wie sie verlaufen ist längst nicht ausgemacht. Doch sicher ist, dass sie alle irgendwann einmal beginnen, und das ist wiederum tautologisch. Ohne Beginn kein Ende, und dazwischen Entwicklung. So verläuft das Leben oder das Leben ist ein Prozess. Auch das ist tautologisch. Vielleicht gerade deshalb, weil es einen Anfang gibt und ein Ende, das zu diesem Anfang gehört. Das Ende ist also letztendlich in seinem Anfang bereits schon angelegt. Das Leben beginnt sich zu leben, lebt sich und lebt sich vor allem zu Ende.
Leonberg, 21. 2. 2018
Opus: 48
Hesse-Zyklus mit Christian Wagner (2001) op. 48 – Erbacher Musikverlag – Gesamtdauer 17’
„Da gaben wir einander die Hände, ...“ op. 48/I für Fl., Ob., Kl. (A), Fg./ 1. Gg., 2. Gg., Br., Vc. (Streicher chörig) –
4’30“
„... und Sie standen noch einen Augenblick, mich mit Ihrem hellen Blick festhaltend, ...“ op. 48/II für 2 Fl., 2 Ob.,
2 Kl. (A), 2 Fag., / 2 Tp., 4 Hr., / 1. Gg., 2. Gg., Br., Vc. + Kb. – 7’
„... und Ihre greise, kleine Gestalt ist mir seither für immer so im Gedächtnis geblieben.“ op. 48/III für 2 Fl., 2 Ob.,
2 Kl. (A), 2 Fg / 2 Tp., 4 Hr. / 2 Tamt. / 1. Gg., 2. Gg., 1.Br., 1. Vc.; 3. Gg., 4. Gg., 2. Br., 2. Vc. – 5’
Hesse-Zyklus mit Christian Wagner (2001) op. 48
„Da gaben wir einander die Hände, ...“
für Fl., Ob., Kl. (A), Fg. / 1. Gg., 2. Gg., Br., Vc. (Streicher chörig) op. 48 I
„... und Sie standen noch einen Augenblick, mich mit Ihrem hellen Blick festhaltend, ...“
für 2 Fl., 2 Ob., 2 Kl. (A), 2 Fg . / 2 Tp., 4 Hr. / 1. Gg., 2. Gg., Br., Vc + Kb. op. 48 II
„... und Ihre greise, kleine Gestalt ist mir seither für immer so im Gedächtnis geblieben.“
für 2 Fl., 2 Ob., 2 Kl. (A), 2 Fg. / 2 Tp. (B), 4 Hr. (F), / 2 Tamt. / Streicher geteilt:
1./2. Gg., 1. Br. 1. Vc. / 3./4. Gg., 2. Br., 2. Vc. (ohne Kb.) op. 48 III
Man sagt, der frühgerühmte Hermann Hesse habe niemals, als er mit der Bahn aus des Schwarzwalds und auch sonstiger Enge von Calw nach Stuttgart herausgefahren war, in dem an der Bahnstrecke liegenden Oberamtsstädtchen Leonberg Station gemacht, um dem um 36 Jahre älteren „Kollegen“ Christian Wagner, dem kauzig scheinenden Bauerndichter aus Warmbronn, seine Aufwartung zu machen! Auch noch Jahre später, als Hesse seinen eigenen Stil gefunden hatte, ob dessen er so sehr auf sich aufmerksam machen konnte und deshalb bereits eine stattliche Anhängerschaft gefunden hatte, und als er es sich hätte leisten können, weil jedermann wusste, wie weit die beiden Dichter auseinander lagen, hat er, obwohl er sich nichts vergeben hätte, den hochbetagten Christian Wagner nicht dort besucht, sondern hatte ihn zu sich nach Gaienhofen kommen lassen. Hesse kam ihm also nicht entgegen, und so war aus Hesses Sicht jene Rangfolge des Berufsschriftstellers zu einem Bauerndichter nicht ins Wanken geraten, eine Rangfolge, auf die Hesse so unerbittlich stolz gewesen war, denn Hesse hat im Gegensatz zu Wagner schon längst, seit jungen Jahren, von seiner Schriftstellerei sorgenfrei leben können. Ganz im Gegenteil zu dem Dichter und Bauern aus Warmbronn. Wagner hatte eine kärgliche Landwirtschaft, die ihm so wenig eingebracht hatte, dass er nie ein besonderes Verhältnis zum Geld entwickeln konnte, vielleicht auch gar nicht wollte. Nicht zuletzt unterschieden sich die beiden Dichter auch dadurch.
Wenn heute die Warmbronner ihren Bauerndichter Christian Wagner den Fremden erklären, dann erzählen sie ihnen immer dieselbe Geschichte, dass ihn, den Christian Wagner nämlich, die Kuh, die er eigentlich beim Schlachter hatte abliefern wollen, auf dem Weg dorthin derart gebarmt hat, dass er mit ihr aus Ehrfurcht vor dem Leben wieder umgekehrt ist, und sie dann bis an ihr natürliches Lebensende verhalten hat. Ach, der Christian Wagner hätte gern mehr über seine feinsinnigen Bekenntnisse vom Glauben an die Natur geschrieben. Doch aus Zeitnot konnte er sie nur gelegentlich niederschreiben. Schade, denn wir hätten gern von ihm mehr erfahren, vor allem weil aus seinem Denken die Idee des Tierschutzes entstanden ist. Inzwischen ist der Schutz der Tiere im deutschen Grundgesetz verankert. Wie froh wäre Wagner, wenn er davon wüsste, dass es seine Vorstellung des Lebens so weit gebracht hat! Für sein dichterisches Werk hat er nie einen wichtigen Verleger gefunden. Wenn also Hesses Bewunderung für Wagners Naturmythos sowie dessen „indischen Gedanken und Seelenglauben“, so wie er in seinem Geburtstagsgruß zu Wagners Achtzigstem kundtut, echt sind, hätte Hesse, der Buchhändler mit realem Sinn für Geld und seinen Wert, es sich geradezu leisten müssen, dem stets Mittellosen zu helfen. Christian Wagner, der greise Bauerndichter, den kaum jemand kennt, hat den dreiundvierzigjährigen Hermann Hesse in Gaienhofen besucht.
*
Hermann Hesse: Gedenkblätter – An Christian Wagner (Zu seinem 80. Geburtstag, 1916):
„Lieber, verehrter Christian Wagner! Ich kann nicht an Sie denken, ohne Sie wieder so zu sehen, wie Sie damals nach einem Besuch in Gaienhofen von mir Abschied nehmen. Ich hatte Sie eine kleine Stunde weit begleitet, bis zu jener Grenze, an welche ich besonders werte Gäste zu begleiten pflegte. Es war ein Waldrand, bei dessen Betreten man von den Schweizer Bergen Abschied nahm, um nach dem Durchschreiten des Gehölzes plötzlich dem Radolfszeller See und dem Hegau gegenüber zu stehen. Da gaben wir einander die Hände, und Sie standen noch einen Augenblick, mich mit Ihrem hellen Blick festhaltend, und Ihre greise, kleine Gestalt ist mir seither für immer so im Gedächtnis geblieben: am Waldrand stehend, den Blick in meinen Blick gerichtet, einen Streif Sonnenlicht auf der hohen Stirn. Dann wandten Sie sich, schritten mit erstaunlicher Rüstigkeit und Schnelligkeit in den Wald hinein, ohne nochmals zurückzusehen, und der durchsonnte Wald verschlang den kleinen, vergreisten Greis wie der Märchenwald einen Gnom. – Ich aber sah Ihnen noch eine Weile nach, auch als Sie schon ganz verschwunden waren, und ich empfand einen Hauch jener verschämenden Traurigkeit, die ich oft auch nach dem Lesen Ihrer Gedichte gespürt hatte: ...“
Leonberg, 10. 9. 2001
Opus: 49
... ein Zauber stärker als alles Entstehen und Vergehen, Septett für Altfl. (G), Vibra., Hrf., Klav., Gg., Br. Vc. (2001) op. 49 – 4'20" – Erbacher Musikverlag – Partitur + Stimmen
... ein Zauber stärker als alles Entstehen und Vergehen
Septett für Altflöte (G), Vibraphon, Harfe, Klavier, Geige, Bratsche und Cello (2001) op. 49
Wäre die Idee in ihrer ganzen Länge und in ihrer ganzen Ausdehnung komponiert worden, würde ihr formaler Verlauf dem Wachstum eines stattlichen Baumes mit allen seinen Ästen samt seinen Verzweigungen gleichen, die bis in ihre Spitzen immer feinere Zweige in immer kleineren Abständen hervorbringen. Dies zu musikalisieren, verlangte nach einer unvorstellbaren Menge von Konfigurationen nebst einer riesigen Menge von Musikinstrumenten, die sich alle in ihrem Klang voneinander zu unterscheiden hätten, denn ein Baum trägt lauter verschiedene Äste. Doch so viele Musikinstrumente wie Äste und Zweige gibt es gar nicht. Hätte dann doch jemand den ganzen Baum komponiert, was ein ziemlicher Unfug ist, so müsste die Aufführung eben dieses ganzen Baumes Stunden wenn nicht gleich Tage oder gar Wochen dauern. Ich habe mich nur für sieben Instrumente entschieden. Und mit diesen kann man höchstens einen Ast mit seinen Verzweigungen bis zur Spitze komponieren und hätte somit das System Baum dennoch umfassend verstanden.
So stellt das Septett nur den ersten Ast aus einem gewaltigen sich beschleunigenden Prozess dar, der letzten Endes, wenn er denn in seiner ganzen Entfaltung zu einem ganzen Baum komponiert worden wäre, unausweichlich ins Chaos laufen würde. Dieser nun hier komponierte einzelne Ast beschleunigt sich, wie es auch die übrigen täten, von zunächst niedrigzahligen Zeitproportionen zu immer höherzahligen, und das in sieben Stufen (Strukturen A bis G). Unserem Eindruck nach - also nach dem, was wir Hörer wahrnehmen - zerstreuen sich (dissipieren) die anfangs noch klar und als individuell wahrgenommenen Ereignisse von Stufe zu Stufe in immer kleinmaschigere und immer unindividuellere Klangkollektive. So geht unserer gehörten Vorstellung nach die noch anfänglich vom Solitär bestimmte Konfiguration allmählich über in einen statistischen Kollektivklang, einen Klang also, der lediglich eine Klangsumme darstellt aus allen am Prozess beteiligten Instrumenten, ohne dass sich ein Instrument besonders hervortäte.
Auf dem Weg vom Individualklang zum Kollektivklang beschleunigt sich nicht nur die Zerstreuung (Dissipation), sondern mit dieser Zerstreuung einher geht auch eine stetige Verkürzung dieser Strukturen. So beginnt der Prozess mit seiner längsten Struktur (Struktur A). Er endet nach seiner siebten Beschleunigung (nach Struktur G). In ihr werden dann Spielgesten in so hohem Tempo verlangt, welche die Spieler nur noch mit größter Konzentration schaffen. Danach kehrt wieder vollkommene Ruhe ein (Struktur H). Mit ihr könnte der bisher vorgeführte Prozess jetzt auf höherem Niveau wieder beginnen und in Richtung Chaos fortfahren (mutierte Iteration), doch da habe ich den weiteren Fortgang abgebrochen.
Der Übergang von einer Struktur zur nächsten kündigt sich kurz vor Strukturende durch eine Zone zunehmender Instabilität an. Ihr Klang steigert sich in immer heftiger werdende Oszillationen hinein, immer mehr Trillerketten bestimmen den Klang. Solche Zonen dauern so lange, bis schlagartig die folgende Struktur (mit veränderten Zeitproportionen) einsetzt. Mit ihr herrscht anfänglich wieder stabile Ordnung und dasselbe Spiel beginnt auf höherem Niveau wieder von neuem. So zerstreut dieser Prozess die Ausgangsenergie unaufhaltsam. Es gibt kein Zurück, der Prozess ist unumkehrbar. Die noch zu Beginn des Stücks individuellen musikalischen Gestalten führen aufgrund ihrer Dissipation zu einer fortwährenden Abstraktion und damit zu einer vollkommen gewandelten Klangkonsistenz, die aus sich selbst heraus zu einer einmaligen dramatischen Klangorganisation geführt hat: Das ist musikalische Selbstorganisation.
Leonberg, 24. 10. 2002
U: 22. 12. 2005 Karlsruhe, Schloss Gottesaue, Ensemble für Neue Musik der Hochschule für Musik Karlsruhe mit Filip Saffray (Vl.), Xuejia Hao (Va.), Annette Haaß (Vc.), Katharina Lorenzen (Fl.), Birke Falkenroth (Hrf.) Rie Watanabe (Vibra.), Célia Schmitt (Kl.), Gerard Buquet (Ltg.)
Opus: 50
Erinnerungen hinter der Erinnerung, ein Gedicht von Christian Wagner für Harfe und Sprecher (2002) op. 50 – 7’ – Erbacher Musikverlag
Erinnerungen hinter der Erinnerung
ein Gedicht von Christian Wagner
für Harfe und Sprecher (2002) op. 50
Das Gedicht Erinnerungen hinter der Erinnerung von Christian Wagner, dem Bauerndichter aus Warmbronn (ein Teilort von Leonberg), hat sechs Strophen:
Strahlt nicht auf mitunter, so zu Zeiten Kunde her von unsern Ewigkeiten?
So urplötzlich und so blitzesschnelle wie die blanke Spiegelung einer Welle?
Wie die ferne Spieglung eines bunten kleinen Scherbchens an dem Kehrricht drunten?
Wie die rasche Spieglung einer blinden Fensterscheibe am Gehöft dahinten?
Die metall'ne Spieglung einer blanken Pflugschar drüben an der Wiese Schranken?
Augenblicks mit Licht dich übergießend, augenblicklich in ein Nichts zerfließend.
Ich habe die Komposition so angefertigt, dass ich zunächst einmal jede Strophe immer wieder laut gesprochen habe, wobei ich in die so entstandenen Sprachmelodien mit ihren Melodiebögen, ihren Rhythmen und ihren Pausen bis ins Innerste hineingelauscht habe. Diese Vorgehensweise habe ich zum Ausgang der vorliegenden Komposition gemacht. Dabei bin ich mir im Klaren, dass meine höchst subjektive Art des Sprechens mit allen Unzulänglichkeiten voll zum Tragen kommt, nämlich so, wie ich – und sonst niemand – dieses Gedicht von Christian Wagner laut liest. Auf diese Weise vermittelt das gehörte Ergebnis – und das habe ich von vornherein so gewollt – etwas von der Authentizität meiner individuellen Ausdrucksfähigkeit, die dieses Gedicht in mir auslöst. Dadurch wird meine auf Christian Wagner reagierende Sprache zum Kernpunkt der Komposition. Von den näherungsweise besten Lösungen meiner Leseproben habe ich dann Aufschriebe gemacht, Strophe für Strophe. Sie sind nach der Geschriebenheit des Gedichts das unmittelbar klingende Ausgangsmaterial für die Komposition.
Dasselbe Material erhält auch der Sprecher, freilich in unveränderter Form. Es ist sein Part. Die Verbindung zwischen seiner/meiner Sprache und der Harfe wird insofern hergestellt, als ich das zu Sprechende in synchronen Harfenklang mit fixen Tonhöhen und in die Rhythmik des Sprechers übertragen habe. Auf diese Weise „spricht“ die Harfe ebenfalls, selbstverständlich dasselbe, was auch der Sprecher spricht: dieser mit Sprachlauten, die Harfe mit Tönen und ihrem typischen Timbre in verschiedenen Registern. Das gilt für jede Strophe, also für jede Erinnerung.
Doch nur noch bedingt gilt dies für das, was hinter der Erinnerung steht, nämlich für die Erinnerungen hinter der Erinnerung. Sie habe ich folgendermaßen entwickelt: Nehmen wir als Beispiel die erste Strophe „Strahlt nicht auf mitunter, so zu Zeiten Kunde her von unsern Ewigkeiten?“. Diesen Text habe ich gefünfteilt: „Strahlt nicht auf (a) / mitunter, (b) / so zu Zeiten (c) / Kunde her (d) / von unsern Ewigkeiten? (e)“. Für die erste Erinnerung hinter der Erinnerung habe ich die folgenden Textgruppen jeweils aufeinander projiziert „Strahlt nicht auf (a)“ auf „ mitunter (b)“ zu (a/b), dann „mitunter (b)“ auf „so zu Zeiten“ (c) zu (b/c), weiter „so zu Zeiten“ (c) auf „Kunde her (d)“ zu (c/d) und schließlich „Kunde her (d)“ auf „von unsern Ewigkeiten? (e)“ zu (d/e). So ergibt sich für jeden hinter der Erinnerung erinnerten Klang trotz seiner einmal in der Erinnerung festgelegter Klangphoneme und ihrer ebenso festgelegter Semantik ein neuer Kontext, in dem sich jeder Ausgangsklang der Erinnerung folglich in der Erinnerung hinter der Erinnerung wiederfindet und damit auch neue musikalische Phoneme (= Klänge, ihre Register und ihre Farben) wie auch eine neue musikalische Semantik ausbildet. Somit beginnt die Erinnerung hinter der Erinnerung zu wuchern.
Dieses selbe Prinzip setzt sich in der zweiten Erinnerung hinter der Erinnerung auf dieselbe Weise fort: Die Ergebnisse aus den Klangprojektionen der ersten Erinnerung hinter der Erinnerung werden erneut aufeinander projiziert: (a/b) auf (b/c) zu (ab/bc), dann (b/c) auf (c/d) zu (bc/cd) und schließlich (c/d) auf (d/e) zu (cd/de). Dadurch entfernt sich die zweite Erinnerung hinter der Erinnerung noch weiter von der ursprünglichen Erinnerung.
Die dritte Erinnerung hinter der Erinnerung ergibt sich aus den Projektionen (ab/bc) auf (bc/cd) zu (abbc/bccd) und (bc/cd) auf (cd/de) zu (bccd/cdde).
Die vierte Erinnerung hinter der Erinnerung ist das Ergebnis aus der Projektion von (abbc/bccd) auf (bccd/cdde).
Leonberg, 6. 8. 2002
U 6. 10. 2002 im Christian-Wagner-Haus Warmbronn, Ulrike Neubauer - Harfe, Christian Büsen - Rezitation, anlässlich einer Gemäldeausstellung von Ortrun Kollmann
Opus: 51
inmitten, Sonate für Bratsche, Waldhorn und Orgel (2002) op. 51 – 12’ – Erbacher Musikverlag
inmitten
Sonate für Bratsche, Waldhorn und Orgel (2002)
op. 51
Im Zentrum steht Johann Walters Kirchenliedmelodie "Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen" von 1524. Die Melodie gründet auf der Antiphon media vita in morte sumus aus dem 11. Jh. Den vierstimmigen Satz habe ich aus meinem Gerlinger Chorbuch op. 31 für die Orgel unverändert übernommen. Dieser Satz ist das Ergebnis aus Differenztönen. Sie werden gebildet aus der Melodiestimme als höchster Stimme des Satzes und einer von mir gemachten tiefer liegenden Gegenstimme, meistens der Altstimme. Die beiden restlichen Stimmen sind die Differenztöne aus den beiden oberen Stimmen. Über diesen vierstimmigen Satz hinweg werden die Summationstöne der Akkorde als natürliche Flageoletttöne (Teiltöne der leeren Saiten) hoch über alles hinweg gespielt. Zum Einen sind das insgesamt nur sehr wenige Töne, zum Andern sind diese Töne lang über mehrere Akkorde hinweg gehaltene Töne. Sie überspannen und gliedern das vertikale Klanggeschehen in seinen syntaktischen Phrasen. Das Horn kann nicht so hoch spielen wie die Bratsche. Die Horntöne sind Pedaltöne, auch lang gehaltene. Diese Töne sind Differenztöne aus den Akkorden des vierstimmigen Satzes. Sie verlaufen in der Regel synchron zur Bratschenstimme. Sie stören die horizontale Entfaltung der Melodie nicht, weil sie von vornherein schon in den Klängen des vierstimmigen Satzes enthalten sind. Mit ihnen erleben wir aller melodischen Entwicklung zum Trotz ihre enge Bezogenheit melodische (also horizontale) Bezogenheit aufeinander. Damit stehen sie in der Tradition der stets einstimmigen mittelalterlichen Melodiebildungen. Inmitten der Walterschen Melodie lebt dieses kirchlich-abendländische Melodiesystem zu Teilen noch fort, das ich in die Vierstimmigkeit übertragen habe.
Die Teile eins und drei sind Zeitpalindrome. die sich in Ketten selbst organisierenden Palindromen fortentwickeln. Zeitpalindrome befinden sich nicht im Gleichgewicht, weder im mechanischen noch im thermodynamischen. Ihre Symmetrie ist gebrochen. Deshalb streben sie nach vorwärts. Spiegelsymmetrische Palindrome streben nicht nach vorwärts. Sie sind vorwärts wie rückwärts gelesen gleich. Deshalb bewegen sie sich nicht. Zeitpalindrome dagegen bewegen sich. Sie nehmen einen asymmetrischen Verlauf. Zeitpalindrome sind keine Zustände sondern Prozesse. So etwas zu komponieren entspricht meiner Vorstellung, meiner Vorstellung von Welt. Die Welt kennt immerwährende stabile Zustände nicht, höchstens vorübergehende nur stabil erscheinende Zustände (was ein Widerspruch in sich selbst ist). Welt entsteht, Welt vergeht. Auch der Feldstein wird irgendwanneinmal zerfallen sein. Welt ereignet sich, die Welt prozediert. Damit gibt es ein Vorher vor einem bestimmten Zeitpunkt, wie es auch ein Nachher nach einem bestimmten Zeitpunkt gibt. Auf diese Weise, weil es ein Vorher und ein Nachhe rgibt, ist in dieses System 'Welt' Zeit und damit Geschichte hineingekommen, in unser Leben, in unseren Kopf. Jedes offene mit seiner Umgebung sich austauschende System läuft in den Zerfall und aus dem Zerfallenen bilden sich neue Strukturen, neues Leben.
Leonberg, 11. 9. 2002
Opus: 52
Mörike, Eduard – Dichter, ein prozedierendes Zeitpalindrom für zwei Streichergruppen mit interpolierten Szenen für Bariton, Sprecherin und Klavier (2003/04) op. 52 – 1./2. Gg., 1. Br., 1./2. Vc., 1./2. Kb.; 3./4. Gg., 2. Br., 3./4. Vc., 3./4. Kb.; Bariton, Sprecherin, Klavier. – ca. 18' – Erbacher Musikverlag – Partitur + Aufführungsmaterial
Mörike, Eduard - Dichter
ein prozedierendes Zeitpalindrom für zwei Streichergruppen mit interpolierten Szenen für Bariton, Sprecherin und Klavier
(2003/2004) op. 52
Mörike, Eduard – Dichter ist mit Unterbrechungen vom August 2003 bis zum Januar 2004 in Leonberg entstanden, zuerst die Streicherpartien, dann die vier Verse meiner Transskription von Mörikes Agnes mit Vertonung (Mörike hat seine Agnes 1831 in Eltingen, dem heute flächenmäßig größten Ortsteil von Leonberg geschrieben; Mörike war in Eltingen für fünf Monate Pfarrverweseser), schließlich hat Manfred Koch, Mörike-Experte an der Universität Tübingen, sein Impromptu auf Mörikes Zoo geliefert.
Die Agnes hab’ ich nie erlebt. Das tut mir leid. Der Mörike hat sie mir nur dokumentiert, damals ... vor fast 180 Jahren. An dem Laut ihrer Worte hat sich bisher kein Sterbenswörtchen geändert. Mensch, die Agnes ist doch kalt! Begreif das endlich! Also laß sie leben! Vom Heute, vom Jetzt. Weil ich, der sie erleben will, heute, jetzt lebe, kann ich sie mir am besten vorstellen, wenn sie auch wie ich heute lebt, mit mir, in meiner Zeit. An das, was weiter zurückliegt, kann ich mich nur dunkel erinnern, und an alles Andere vor meiner Zeit sowieso nicht. Was ich nicht erinnern kann, ist von mir nicht erlebt, ist tot, gibt es nicht. Doch in meiner Vorstellung ist die Agnes ein junges begehrenswertes Weib von Saft und Kraft vom Jetzt, vom Heut’. Sie also west. Am liebsten tät ich mit ihr rumschäkern! Aber um Himmels willen doch nicht mit einer Verwesten, deren Sprache sich mit den „Schnitterinnen“, dem „kranken Blut“, und dem „Weinen bei der Linde“ als gestrig verrät! Da gehen die jungen Leut’ heut’ anders zur Sache! Also nähere ich mich einer/meiner Agnes von heute, wie es vielleicht auch Arno Schmidt getan hätte. Ich bin mir sicher, der Mörike hätte darüber gelacht, hätte gelacht, gelacht ... und hätte sich dickere Handschuhe besorgt, um sich vor den spitzen Dornen seiner Rosen zu schützen. Nun, so war der halt, der alte schrullig spießige Pedant mit visionären Momenten zum ganz Großen, in griechischen Versfüßen voller eleganter Lässigkeit. Das war dem Konsistorium denn doch zu viel.
Der Mörike, der Eduard – der Dichter war vernarrt in Ordnung, verstrickt sich akribisch in ihr bis zum Fanatismus. Wenn er noch lebte – wer weiß – würde er uns damit womöglich noch tyrannisieren. So soll er sie also haben, seine geliebte Ordnung, gleich heute noch! Ich geb’ ihm etwas, an dem er sich die Zähne wird ausbeißen können, und von dem ich weiß, dass er die Herausforderung annimmt: ein Palindrom! (Da kann er dann Sätze erfinden, womöglich in griechischen Versmaßen, die man gleichzeitig vorwärts und rückwärts lesen kann: Soll er mal sehen, wie er damit zurecht kommt!). Das ist das Richtige für ihn. Ich weiß, ihn wird’s maßlos freuen, weil er oft freiwillig so ein kniffliges Zeug aus dem Altgriechischen in seine Gegenwart übertragen hat. Manchmal machte er sogar komplette Neudichtungen daraus (- ich auch!). An solchen klassischen Palindromen erregt ihn die vollkommene Ordnung des Gleichgewichts: vorwärts wie rückwärts gleich. Wie wird er erst reagieren, wenn er von asymmetrischen Palindromen als Überstrukturen erfährt, die sich nur mehr oder weniger im Gleichgewicht aufhalten, und die wir heute nahezu überall finden, wie z. B. auch in der DNS, die aber zu Mörikes Zeit noch niemand gekannt hat? Dass es also auch eine Ordnung des Ungleichgewichts gibt – übrigens die viel interessantere und aufregendere Variante – die sich am Rand zwischen Ordnung und Chaos bewegt, wird ihn, den Pedanten mit visionären Momenten, faszinieren. Da kann er dann Geschichten erfinden, in denen er die vierte Dimension, die Zeit, ins Geschehen bringt, die den Verlauf der anderen drei Dimensionen von sich abhängig macht und damit das klassische Palindrom aus seinem Gleichgewicht zieht; trotzdem hat er noch komplette Ordnung. Solche Strukturen dissipieren (entwerten sich) in und mit der Zeit mal schneller mal langsamer. Bei solchen Abläufen steckt am Anfang noch die ganze eingeschlossene Energie drin, entwertet sich aber im Verlauf immer mehr, so selbstverständlich bei jedem natürlichen Vorgang, auch bei jedem Palindrom, das ein Prozess ist. Seine Stränge, der vorwärts laufende und der rückwärts laufende, verhalten sich also nicht spiegelsymmetrisch. Wegen ihres Fortschreitens in der Zeit entwerten sich die beiden Stränge in Leserichtung von links nach rechts, wodurch sich diese Palindrome nicht mehr im Gleichgewicht befinden und einen asymmetrischen Verlauf nehmen. Solche Palindrome nenne ich Zeitpalindrome. Sie erreichen ihr Ende erst dann, wenn sich die gesamte Energie entwertet hat. – In Mörike, Eduard – Dichter spielen die beiden Streichergruppen solche Zeitpalindrome.
Den Mörike, den Eduard – den Dichter hätt’s bestimmt gefreut. Ich glaub’, ich hab’ viel vom Mörike.
Leonberg, 18. 2. 2004
Eduard Mörike Walther Erbacher
Agnes
Rosenzeit! Wie schnell vorbei, äM./:“Du sag ma : kann man
Schnell vorbei hier etwa D a u e r r o s n kriegn so rot wie’n Solanum lycopersicum ( ’
Bist du doch gegangen! s’is der Liebesapfl oder die gemeine Haustomate mit
Wär mein Lieb nur blieben treu, drüsich=kurzhaarich weichm
Blieben treu, Äst=Gestängl ) ?!“ -
Sollte mir nicht bangen. Angy zischte geziert,
äthö’pöthä’thö , pikiert /:
“ Igitt , lass doch diese Scherze mit sonem Gestängl=Gesläng! “ – äM./
(melancholisch) :“ War wohl nix mit der Liebe! Ja, ja nix mit Liebe ! –
vorbei !“
Schleiche so durchs Wiesental, : äM./ stiert Riesn=Alp
So durchs Tal, in Wiesn=Túnnl (& traumt ’Riesn=Träume’ immerfort);
Als im Traum verloren, gefrorne Tränen sind sein’ Traumen.
Nach dem Berg, da tausendmal, O lass den FREUD doch endlich fort!
Er mir Treu geschworen. - ( Angy mockiert ) „Guck mal, dort drübn’im Tal : –
der äM./ gräbt ganz pedantisch
(oder ganz [pes]andantisch)
statt der Rosn L i e b e s ä p f l ein –
ach wie treulos, treulos
trotz aller Schwüre.
Um die Ernte wohlgemut - : nach 1 Mond & 3 Tagn zupft äM./
Wohlgmut die scharlachblutrötigen solana sanguinea – ’s sind die
Schnitterinnen singen. giftig=unreifn b l u t r ü n s t i g e n : heißer-kehlig bälligen
Aber ach! Mir krankem Blut, Geisenheimer Frühesten ;
Mir krankem Blut flach kuglig & längswulstig, säurig-süß mit hellen
Will nichts mehr gelingen. filzign plattn S a m n ;
vom drüsich=kurzhaarich weichn Äst-
Gestängl.
- : Sind das etwa R o s n mit spitz=dornigem Rank=Gezweig ? !!
(The Sunrise is poisoned)
Die Sorte ist vergiftet, vergiftet.
Oben auf des Hügels Rand, /Selbst Angy schüttelte den Kopf und tönte ( kalt ) :
Abgewandt, “ äM./ ,Du heulendes Elend’ “ (- sie dann weiter gouvernantenhaft & mit zynischem Unterton )
Wein' ich bei der Linde; “ denk’ dran : K r o k o d i l s t r ä n e n enthalten v i e l Wasser, Tropfen=Tränen w e n i c h . An dem Hut mein Rosenband ( Angy dann eher hintersinnig triumphierend glucksend: ) Geldt äM./, zum Abkochn von
Von seiner Hand Tomatn braucht man v i e l Wasser (!) ... wie immer bei (jungem) Gemüse oder bei
Spielet mit dem Winde. Zierfrücht(ch)en! Am ergiebigsten sind die frühreif’n festfleischig’n, zart- & glatt-
h e u t i g e n Sorten, die wulstfrüchtigen & die prallfrüchtigen . Sie enthalten
0,95–1,25 % Stickstoffverbindungen, 3,6 % Kohlenhydrate, 0,43 % Zitronensäure
& bis zu 93,5 % Wasser.
- Angy ( jetzt hinter vorgehaltner Hand ) : “ Guck mal, wie’s den äM./ tränig schüttelt. ...
*
Mörike-Zitate zusammengestellt und eingeleitet von Manfred Koch
Impromptu auf Mörikes Zoo
A: Kinder, Heilige und Narren, heißt es, können mit den Tieren reden. Mörike, der wohl von allem etwas war, verstand sich vortrefflich auf solche Unterhaltung. Bevorzugter Gesprächspartner war Hund Joli, der vielgeliebte Spitz:
M: Impromptu an Joli, als er nach einer Edeltat der Bescheidenheit von mir, von Clärchen und Mutter wechselweise auf den Arm genommen und bis zu seinem Überdruß geliebkost wurde:
Die ganze Welt ist in dich verliebt
Und lässt dir keine Ruh’
Und wenn’s im Himmel Hunde gibt,
So sind sie grad wie du.
A: Wo es um Liebe geht, ist Eifersucht nicht fern. Joli neigt zu Untreue; er betrügt den Dichter mit Schwester Clärchen, worauf ein förmliches Scheidungsverfahren eingeleitet wird.
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M: Gestern habe ich meinen seit 8 Jahren besessenen Haus- und Spazier-, auch Jagdhund, genannt, Joli, seines Dienstes förmlich entlassen und zwar um mir den täglichen Ärger über seinen Ungehorsam zu ersparen. Meine Spaziergänge waren ihm nachgerade langweilig, er ließ den Schwanz sinken, sobald er mich die Stiefel anziehen sah, während er lauter Leben war, wenn Clärchen nur von weitem Miene machte zu einem Gang ins Dorf. Dies letztere war gestern abend so auffallend, daß ich mich kurzweg resolvierte. Ich stellte, zu mehrerer Feierlichkeit, zwei brennende Lichter auf den Tisch, nahm den Hund auf den Arm, hielt eine kleine Anrede, worinnen ihm bedeutet ward, daß er, der bis daher Zweien gefolget, nunmehro, wie ich dieses eine Licht auslösche, mich fürder nicht als seinen Herrn mehr zu betrachten, sondern der Schwester zu gehorchen habe, daß ich jedoch Atzung und Steuer wie bisher zu präsentieren übernehmen, etwaige Calfakterien aber, die er künftig zu meinen Gunsten üben möchte, auf keine Weise akzeptieren werde usw. Er zeigte über diesen ganzen Actus die Visage eines Simpels, der Schläge befürchtet.
***
A: Joli bleibt natürlich an der Seite seines Herrn, mit den Jahren stellen sich freilich die Probleme einer alternden Ehe ein:
M: Ich unterhalte mich viel mit der Katze. Den Joli macht sein Alter faul, diffizil und empfindlich.
A: Nun ist die Eifersucht am Hund. Die Katze, die der Freund Wilhelm Hartlaub aus Wermutshausen geschickt hat, macht ihm Avancen; er aber, der die älteren Rechte hat, demonstriert seinen Stolz:
M: Die kleine Wermutshauser Katze fing am 24.sten abends in der Küche ihre erste, gleichfalls kleine Maus. Es sah alles höchst zierlich aus, wie sie das Arme in den Zähnen hielt und knurrend seitwärts blickte, wenn man sich ihr näherte. Vier Hände streichelten sie höchst belobend. Sie sucht auf alle Art Jolis Freundschaft, däubelt nach seinem Schwanze, springt auf ihn zu, wird aber schnöde, oft grimmig abgewiesen. Diese Hausgenossenschaft ist ganz geeignet, ihm sein altes Dasein vollends zu verkümmern, deswegen ihm zuweilen ein besonderes Bene von mir widerfährt.
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A: Unter „Hausgenossenschaft“ versteht Pfarrer Mörike offenbar ohne entschiedene Abgrenzung die Menschen und Tiere, die unter seinem Dach leben:
M: Der Star, der Distelfink, der Igel, der Hund und die Katze geben auch immer ihren Teil zur Unterhaltung ab. Gestern habe ich die Menagerie in folgende Tierklassen eingeteilt:
1. stinkende und zugleich singende,
2. rein singende,
3. rein stinkende,
4. solche, die weder stinken noch singen, unter welch letztere der Joli und die Katze zu kommen sich schmeicheln.
A: Bisweilen genügen ihm die wirklichen Tiere nicht mehr; dann erfand er sich neue aus der Sprache und verstrickte sie in traurige Geschichten:
M: Die Streichkröte
Die Kröte, die einst mutig strich,
Hat nun der blasse Tod ergriffen,
Daß ihr das Eingeweichse blich,
Die Volz dazu war nicht geschliffen:
Man rieb sie etwas mit dem Fuß,
Dieweil sie sterben muß.
U Anne Esser (Sprecherin), Dominik Hosefelder (Bariton), Bernhard Mussel (Klavier), Sinfonieorchester Leonberg, Sabine Schönberger (Ltg.) - Stadthalle Leonberg, 3. Juli 2004
Opus: 53
4. Orgelsonate „variable“ (2004) op. 53 – ca.13’25" – Erbacher Musikverlag
4. Orgelsonate
„variable“ (2004) op. 53
Ich habe mich dazu entschieden, meine 4. Orgelsonate op. 53 in Anlehnung an einen möglichst lebensnahen Prozess zu komponieren: die Selbstorganisation. Sie ist Teil eines irreversiblen und nichtlinearen Prozesses, der in seinem Verlauf in Wellen übergeht von stabiler Ordnung in Nichtordnung und dabei dissipativ (d. h. sich entwertend) fern vom thermodynamischen Gleichgewicht verläuft. Der Prozess bewegt sich lange Zeit ziemlich konstant auf hohem Niveau, bewegt sich also im Fast-Gleichgewicht, und stürzt dafür aber gegen Ende umso steiler ab, was bedeutet, dass das Nicht-Gleichgewicht mit der Zeit immer schneller zunimmt. So verläuft auch das Leben. Den Ausgang meiner Komposition bildet ein Zeitpalindrom: Beide Stränge des Palindroms, der positive wie der negative, entwerten sich, indem sie sich in Leserichtung verkürzen. Damit befinden sie sich im Ungleichgewicht. Ihre ursprüngliche Symmetrie, die des klassischen Palindroms, ist gebrochen. Auf diese Weise entsteht Irreversibilität, dieselbe übrigens, die auch allen Naturvorgängen innewohnt. Damit ist die Zeit systemimmanent. Zeit also wirkt und Zeit beschleunigt sich (wenn auch unmerklich). Der Prozess meiner 4. Orgelsonate beschleunigt sich über viele Wellen oder Phasen hinweg, letztlich über die drei großformatigen Teile A, B und C hinweg. In meiner 4. Orgelsonate findet also eine über alles gehende großräumige Verdichtung statt von Anfang an bis zum Ende, über anfänglich noch stabile Ordnung bis zur Auflösung jeglicher Ordnung, also bis ins Chaos.
In meiner 4. Orgelsonate geht es neben Dissipation auch um die Bildung von neuronalen Resonanzgruppen im Gehirn. Das sind so genannte Erregungs- oder Aktionsmuster, und wie wir dank ihrer das Gehörte erleben. Diese Erregungs- oder Aktionsmuster entstehen, wie man heute weiß, spontan und unterliegen nicht unserem Willen; sie entstehen unbewusst. Und das scheint auch der Grund dafür zu sein, weshalb der erste Eindruck einer Wahrnehmung insofern entscheidend ist, als sich hier ein Erregungs- oder Aktionsmuster grundständig knüpft, das sich im Fall weiterer Anstöße nur noch routiniert wiederholt und ausweitet. Aus diesem Grund bedarf es keiner nachgeschobenen kognitiven Rechtfertigung. Die sinnliche Wahrnehmung, ob "schön" oder nicht, ist deshalb das Ergebnis individueller biologischer Abläufe und nichts weiter. Diese Abläufe werden generiert von bestimmten chemischen Prozessen im Gehirn und dem zentralen Nervensystem, die ein elektrisches Aktions- oder Nervenpotential von wechselnder Stromstärke (im Millivoltbereich) erzeugen. Dieses elektrische Potential bringt die Zellmembranen zum Oszillieren. Oszillieren die Membranen der afferenten (der in die Neuralknoten hineinleitenden) Nervensignale gleich mit den efferenten (den aus den Nervenknoten hinausleitenden) Nervensignalen, so herrscht neuronale Resonanz. Und diese signalisiert uns "schön".
Leonberg, 14. 3. 2005
U: Lilia Kuznetsova am 13. 5. 2006 im Großen Saal der Staatlichen Russischen Gnesin-Musikakademie Moskau
Opus: 54
dohan, absurdes Theater mit Bratsche, Klavier und Publikum (2005) op. 54 – Dauer so ziemlich unbestimmt – Erbacher Musikverlag
dohan, absurdes Theater mit Bratsche, Klavier und Publikum (2005) op. 54
Seltsamer Titel. Dahinter steht: dohan ist für meine Freunde Dr. Dorothée und Dr. Hans-Friedrich Heyser aus Bonn, besonders für han, der sich als Vergnügungsbratscher dieses Stück zu seinem Geburtstag, dem 18. August 2005 gewünscht hat. Do hat sich das Stück nicht gewünscht, sie spielt weder Bratsche noch Klavier noch sonst ein Musikinstrument, hört aber gern Musik und malt gern. Außerdem hat sie an einem anderen Tag Geburtstag, und do war auch nicht dabei, als han das Stück bestellt hat, im Auto auf der Höhe von Althengstedt auf der B 295 zwischen Weil der Stadt und Calw im nördlichen Schwarzwald.
Zur Inszenierung: han übt im Wohnzimmer von dohans Wohnung Bratsche, auch dann noch, als die Gäste bereits eintrudeln. Vor han der Notenständer mit wenigen Notenblättern, mehr noch ein riesiger Packen heruntergefallener Notenblätter weit verstreut auf dem Boden, auf dem Tisch, auf dem Büffet, auf ... Und ein vereinsamtes Klavier, auf dessen Pult ein riesengroßer Karton mit ins noch mehr Riesenhafte vergrößerten Noten steht. Niemand ist in Sicht, der's spielen wollte. In dieser absurden Situation schlägt sich han sicht- und hörbar mit seiner Bratsche herum, versucht sich an einfachen Griffen, Doppel- und Tripegriffen, sogar an Quadrupelgriffen, sehr mühselig, besonders in den höheren Lagen. Auch mit dem Rhythmus und dem Tempo hat han so seine Probleme. han begleitet sein Spiel mit Kommentaren und der Mimik seiner Verzweiflung. Zu allem Missgeschick droht ihm, schweisgebadet, auch noch jeden Moment die Brille von der Nasenspitze auf den Boden zu fallen. Dann wird han die Noten noch weniger entziffern können! Dann auch wird han den Notentext noch unvollendeter spielen als zuvor.
han ist sich seiner Rolle bewusst, und ebenso bewusst ist er sich auch, dass er in diesem absurden Theater nicht nur i r g e n d e i n e komische Rolle spielt, sondern dass er in diesem Stück s i c h s e l b e r spielt. Er ist authentisch. Die scheinbare Tragik seines Auftritts ist nur, dass er sein Spiel trotz aller Anstrenung mit der Zeit weder verbessert noch verschlechtert, dass er sich also treu bleibt, weil er nicht anders kann. Das ist tragisch und komisch zugleich, weil er's zum Einen nie besser können wird und weil er zum Anderen seine Rolle nicht spielt, sondern weil er so ist, wie er ist und sich spielt. Das Absurde daran ist, dass er von seiner clownesken Rolle nur loskommt, wenn er auf seinen Auftritt verzichtet, was weder er so recht will, noch wollen es seine Gäste. Ob do das auch so sieht, weiß ich nicht. Um auf den Kern zu kommen: Der Sinn von hans Auftritt liegt in hans unwiderstehlicher Stärke, indem er den Mut aufbringt, vor Publikum so unglaublich schlecht zu spielen, dass es nur noch komisch wirkt. Stark von ihm, dass er dazu auch steht, obwohl er nicht der tragische Held sein will. Und genau diese Haltung macht han so großartig, so echt, wie's kein Mime besser könnte!
Noch hält sich han im ersten Teil in Reichweite des Klaviers auf. han strengt sich über alle Maße an. Sein Spiel stockt, han stetzt wieder neu an, scheitert an derselben oder an anderer Stelle, probiert's nochmal, wechselt das Tempo gerade so wie er will, ruft Taktzahlen in Richtung Klavier, hält sich aber nicht dran, ... Verwirrung auf der ganzen Linie. Die Klavierbegleitung stört ihn nur. han hört nicht hin. han ist mit sich viel zu sehr beschäftigt. Im zweiten Teil ergreift han die Flucht: han geistert in der Wohnung umher und kratzt und trommelt mit dem Bogen völlig außer sich auf seiner Bratsche herum. drischt auch mit einer Stange oder einem Stil, als ob's der Bogen wär, auf Gegenstände ein, die zu Boden fallen und krachend ... Dazu schimpft und flucht er unablässig, kickt bald wild vor Zorn Gegenstände um sich, tut sich dabei weh und heult auf, was nicht nur die Kinder belustigt. Das Klavier bleibt verstummt. Langsam beruhigt sich han. Die Gäste horchen jetzt im dritten Teil zu, was han außer zu bratschen noch so alles treibt, ob er sich im Schlafzimmer z. B. ins Bett legt (die Federn quietschen), und dabei dem Publikum erschöpft eine gute Nacht wünscht, wie das Bratschenspiel immer matter wird, bis er's einstellt und zu schnarchen beginnt, ob er in seiner Bibliothek staubsaugt und dazu wie auch immer noch seine Bratsche spielt, oder welche Geräte er in der Küche betätigt, wie er dazu lacht und immer noch seine Br. ... usw. usf.
Leonberg im August 2005
Opus: 55
XXI. Aphorismus der Naturphilosophie von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling für Orgel und gemischten Chor (2004/05) op. 55 – Orgelstimme, Partitur, Chorheft – ca. 17’30“ – Erbacher Musikverlag
XXI. Aphorismus der Naturphilosophie
von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
für Orgel und gemischten Chor (2005) op. 55
„Alle Verhältnisse bloß äußerlicher Beziehung durch Raum, Zeit, Berührung usw. sind nur ein Schatten jener ewigen Verkettung und wechselseitigen Gegenwart aller Dinge in dem ewig-Einen und unendlich-Vollen.“
Ich habe mich dazu entschieden, für den XXI. Aphorismus der Naturphilosophie einen möglichst lebensnahen Prozess zu komponieren: die Selbstorganisation. Sie ist Teil eines irreversiblen und nichtlinearen Prozesses, der in seinem Verlauf in Wellen übergeht von stabiler Ordnung in Nichtordnung und dabei dissipativ (sich entwertend) fern vom thermodynamischen Gleichgewicht verläuft. So verläuft auch das Leben. Ausgang meiner Komposition bildet ein Zeitpalindrom: Beide Stränge des Palindroms, der positive und der negative, dissipieren, indem sie sich in Leserichtung verkürzen. Damit befinden sich die beiden Stränge trotz aller Gleichzeitigkeit nicht (mehr) im Gleichgewicht. Ihre Symmetrie ist gebrochen. Auf diese Weise entsteht dieselbe Irreversibilität, die auch in allen Naturvorgängen innewohnt. Damit kommt Zeit auf. Und Zeit wirkt. Ein Prozess beschleunigt sich über viele Wellen oder Phasen, dazu noch über die drei großformatigen Teile A, B, und C. Im XXI. Aphorismus der Naturphilosophie findet also eine über Alles gehende großräumige Verdichtung statt vom Anfang bis zu seinem Ende, von anfänglicher stabiler Ordnung bis in die Auflösung jeglicher Ordnung, also bis ins Chaos.
Umgekehrt proportional zum Verlauf des Orgelparts, der übrigens derselbe ist wie der meiner 4. Orgelsonate op. 53, verlaufen die Choreinschübe: Sie werden von Mal zu Mal länger. Damit habe ich auf die Funktionsweise des Zeitpalindroms reagiert: Die großformatigen Teile des Orgelparts als der eine Strang des Palindroms verkürzen sich, die Chorstrukturen als der andere gegenläufige Strang des Palindroms verlängern sich. Schellings Text habe ich zu drei Teilen zusammengestellt. Zunächst habe ich das Original in zwei Stropen geteilt, jede dreizeilig:
"Alle Verhältnisse
bloß äußerlicher Beziehung
durch Raum, Zeit, Berührung usw." und
"sind nur ein Schatten jener ewigen Verkettung
und wechselseitigen Gegenwart aller Dinge
in dem ewig-Einen und unendlich-Vollen."
Die dritte Strophe ist die zeilenweise Projektion der ersten beiden aufeinander:
"Alle Verhältnisse sind nur ein Schatten jener ewigen Verkettung
bloß äußerlicher Beziehung und wechselseitigen Gegenwart aller Dinge
durch Raum, Zeit, Berührung usw. in dem ewig-Einen und unendlich-Vollen."
Alle Textstrukturen gibt es zweimal, im Wechsel: in der ersten Strophe zuerst deutsch, dann russisch, in der zweiten Strophe zuerst russisch, dann deutsch, und in der dritten Strophe zuerst deutsch, dann russisch. Jede Chorstruktur ist nach dem Sprechduktus der jeweiligen Sprache und nach den Kriterien der Wortverständlichkeit komponiert. Der mehrstimmige Klang hat hauptsächlich mit Differenztönen zu tun.
Das Stück ist ein Kompositionsauftrag für einen Jugendchor aus Dubna, Russland.
*
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ist in Leonberg am 27. Janauar 1775 geboren, auf den Tag neun Jahre nach Wolfgang Amadeus Mozart. Mozart verlebte seine letzten Jahre in Wien, wo er dem haltlosen Gerücht zufolge vom kaiserlichen Hofkompositeur Antonio Salieri vergiftet worden sei. Eben dieser Antonio Salieri ist an einem 18. August geboren, wiederum auf den Tag genau, dieses Mal 190 Jahre vor Walther Erbacher; 1750 der eine, 1940 der andere. Über ihr Geburtsdatum hinaus werden Salieri und Erbacher auch so manche Gemeinsamkeit aufzuweisen haben. (Das kann ja später einmal die Wissenschaft herausfinden und belegen!) Doch im Gegensatz zu Salieri wird Erbacher kein Giftmord nachgesagt, jedenfalls bis jetzt noch nicht, weder in Wien noch in Leonberg. So schließt sich mit Leonberg vorderhand auch der dritte Kreis, nämlich der von Schelling und Erbacher: Beide haben einige Jahre ihres Lebens in Leonberg verbracht, Schelling seine ersten, Erbacher seine letzten (von 1980 bis heute).
Leonberg, 7. 3. 2005
Opus: 56
Zeitflut, Septett für Altfl. (G), Kl. (A), Vibra., Hf., Klav., Br., Vc. (2006) op. 56 – ca. 17’ – Erbacher Musikverlag
Zeitflut
Septett für Altflöte (G), Klarinette (A), Vibraphon, Harfe, Klavier, Bratsche und Cello (2006) op. 56
Wäre die Idee in ihrer ganzen Länge und in ihrer ganzen Ausdehnung komponiert worden, würde ihr formaler Verlauf dem Wachstum eines stattlichen Baumes mit allen seinen Ästen samt seinen Verzweigungen gleichen, die bis in ihre Spitzen immer feinere Zweige in immer kleineren Abständen hervorbringen. Dies zu musikalisieren, verlangte nach einer unvorstellbaren Menge von Konfigurationen nebst einer riesigen Menge von Musikinstrumenten, die sich alle in ihrem Klang voneinander zu unterscheiden hätten, denn ein Baum trägt lauter verschiedene Äste. Doch so viele Musikinstrumente wie Äste und Zweige gibt es gar nicht. Hätte dann doch jemand den ganzen Baum komponiert, was ein ziemlicher Unfug ist, so müsste die Aufführung eben dieses ganzen Baumes Stunden wenn nicht gleich Tage oder gar Wochen dauern. Ich habe mich nur für sieben Instrumen-te entschieden. Und mit diesen kann man höchstens einen Ast mit seinen Verzweigungen bis zur Spitze komponieren und hätte somit das System Baum dennoch umfassend verstanden.
So stellt das Septett nur den ersten Ast aus einem gewaltigen sich beschleunigenden Prozess dar, der letzten Endes, wenn er denn in seiner ganzen Entfaltung zu einem ganzen Baum komponiert worden wäre, unausweichlich ins Chaos laufen würde. Dieser nun hier komponierte einzelne Ast beschleunigt sich, wie es auch die übrigen täten, von zunächst niedrigzahligen Zeitproportionen zu immer höherzahligen, und das in sieben Stufen (Strukturen A bis G). Unserem Eindruck nach - also nach dem, was wir Hörer wahrnehmen - zerstreuen sich (dissipieren) die anfangs noch klar und als individuell wahrgenommenen Ereignisse von Stufe zu Stufe in immer kleinmaschigere und immer unindividuellere Klangkollektive. So geht unserer gehörten Vorstellung nach die noch anfänglich vom Solitär bestimmte Konfiguration allmählich über in einen statistischen Kollektivklang, einen Klang also, der lediglich eine Klangsumme darstellt aus allen am Prozess beteiligten Instrumenten, ohne dass sich ein Instrument besonders hervortäte.
Auf dem Weg vom Individualklang zum Kollektivklang beschleunigt sich nicht nur die Zerstreuung (Dissipation), sondern mit dieser Zerstreuung einher geht auch eine stetige Verkürzung dieser Strukturen. So beginnt der Prozess mit seiner längsten Struktur (Struktur A). Er endet nach seiner siebten Beschleunigung (nach Struktur G). In ihr werden dann Spielgesten in so hohem Tempo verlangt, welche die Spieler nur noch mit größter Konzentration schaffen. Danach kehrt wieder vollkommene Ruhe ein (Struktur H). Mit ihr könnte der bisher vorgeführte Prozess jetzt auf höherem Niveau wieder beginnen und in Richtung Chaos fortfahren (mutierte Iteration), doch da habe ich den weiteren Fortgang abgebrochen.
Der Übergang von einer Struktur zur nächsten kündigt sich kurz vor Strukturende durch eine Zone zunehmender Instabilität an. Ihr Klang steigert sich in immer heftiger werdende Oszillationen hinein, immer mehr Trillerketten bestimmen den Klang. Solche Zonen dauern so lange, bis schlag-artig die folgende Struktur (mit veränderten Zeitproportionen) einsetzt. Mit ihr herrscht anfänglich wieder stabile Ordnung und dasselbe Spiel beginnt auf höherem Niveau wieder von neuem. So zerstreut dieser Prozess die Ausgangsenergie unaufhaltsam. Es gibt kein Zurück, der Prozess ist unumkehrbar. Die noch zu Beginn des Stücks individuellen musikalischen Gestalten führen aufgrund ihrer Dissipation zu einer fortwährenden Abstraktion und damit zu einer vollkommen gewandelten Klangkonsistenz, die aus sich selbst heraus zu einer einmaligen dramatischen Klangorganisation geführt hat: Das ist musikalische Selbstorganisation.
Derselbe Text wie der zu "... ein Zauber stärker als alles Entstehen und Vergehen "op. 49
Leonberg, 24. 10. 2002
Opus: 57
Die vier weißen Wände der Welt, Trio für Klavier, Harfe und Vibraphon (2005 - 2017) op. 57 – Dauer ca. 12' – Erbacher Musikverlag
Die vier weißen Wände der Welt
Trio für Klavier, Harfe und Vibraphon (2005 - 2017) - op. 57
Die vier weißen Wände der Welt haben insofern mit Leben zu tun, als sie sich um Prozesse drehen, die sich wie alle lebenden Prozesse in ihrem Verlauf minimiert dissipativ entwerten. Solche Prozesse verlaufen in gebrochener Symmetrie nahe bis fern vom thermodynamischen Gleichgewicht. Auf diese Weise ist ihr Verlauf bis in die Endlichkeit bewegungsgerichtet, nichtlinear und unstet. Daher sind exakte Vorhersagen über ihren Verlauf nicht möglich, nur wahrscheinlich. Die Welt verläuft probabilistisch (= zufällig oder eben wahrscheinlich). So ist Welt kein unveränderlicher ‚Festkörper‘, sondern Welt verändert sich mit allem, was zu ihr gehört, fortwährend, und das heißt letzten Endes, dass sich Welt ereignet. Dadurch kommt Zeit ins System, die Welt wird relativistisch. Deshalb gibt es ein Vorher und ein Nachher, ein Früher oder ein Später, und wir wissen, was ein Später ist, weil wir das Früher bereits kennen und das Später auf das Früher beziehen. Folglich gelangen wir zu einem Ergebnis. Zeit und Welt beziehen sich also aufeinander, sind keine getrennt voneinander zu betrachtenden Größen. Raum und Zeit sind eins. Die Potenziale des Raums – Höhe, Länge, Breite – wirken sich auf den Ablauf von Zeit aus und umgekehrt gestaltet der Ablauf der Zeit die Potenziale des Raums. Zeit ereignet sich ebenso wie sich Welt ereignet. Je dichter die Materie umso langsamer läuft die Zeit und umgekehrt: je schneller die Zeit verläuft desto loser gefügt ist die Materie. Der Verlauf von Zeit bedingt den Verlauf von Raum wie auch umgekehrt der Verlauf von Raum den Verlauf von Zeit bedingt. Raum und Zeit bilden ein Kontinuum. Das ist die Geburt der Vier-dimensionalität.
Leonberg im September 2017
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Unser Alltag ist hauptsächlich geprägt von Geschehnissen, die von thermodynamischer Asymmetrie bestimmt sind. Diese Systeme sind so genannte offene thermodynamische Systeme. Sie pflegen im Gegensatz zu den geschlossenen einen regen Austausch mit ihrer Umgebung, weshalb sie sich auch fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht befinden. Deshalb vollzieht sich ihr Verlauf ins Chaos nichtlinear. In diesen Systemen wirkt sich ein Zeitpfeil aus, was bedeutet, dass sich einfache Ordnung in solche von komplexerer Ordnung selbst organisiert und dass das System stetig neue Zustände generiert. Solcherlei Vorgänge treten in der Natur massiv auf. Typisch für sie ist, dass sie spontan neue Formen und Eigenschaften ausbilden. Diese Systeme sind ideenträchtig.
Sind in derlei offenen thermodynamischen Systemen die Temperaturdifferenzen zwischen System und seiner Umgebung nur gering, so gelingt es diesen Systemen im allgemeinen sich selbst zu dämpfen, was soviel bedeutet, dass sie sich noch relativ nahe am thermodynamischen Gleichgewicht befinden und dass sie sich wie geschlossene Systeme verhalten. Dabei geht ihre anfänglich noch stabile Ordnung linear über in Nichtordnung und erreicht auf diese Weise den höchsten Entropiewert. Der ist das Zerfallensein, das Chaos, genauso wie in geschlossenen Systemen.
Überschreiten die Temperaturdifferenzen einen kritischen Wert, so vermag sich das System nicht mehr zu dämpfen. Sein Weg ins Chaos verläuft nichtlinear unstetig. Aus minimal unregelmäßigen Anfangsbeding-ungen entwickelt sich ein Kontinuum aus Rückkoppelungen und Oszillationen, dessen Zeitpfeil das System in seinem Verlauf immer stärker dominiert. Dabei geht anfängliche Ordnung allmählich über in Nichtordnung, indem sich die anfänglich bestehende Symmetrie bricht. Dabei treibt das System auf einen kritischen Punkt zu, den Bifurkationspunkt, nach dessen Durchschreiten das System sich gegabelt hat. Auf diese Weise ist eine Phasenverdoppelung entstanden, in der sich aus dem bisher einen Strang, der einen Phase, zwei Stränge, also zwei Phasen, gebildet haben mit nunmehr unterschiedlichen Eigenschaften. In den offenen Systemen nimmt die Zahl der Phasenverdoppelungen exponentiell zu, auch in zeitlicher Beschleunigung – zwei Phasen gabeln sich in vier, diese vier in acht, diese acht in sechzehn, und führt zu Massenhaftigkeit, woran schließlich jedes System erstickt. So ist aus einstiger stabiler Ordnung komplexe Nichtordnung geworden. Dort angekommen lassen sich offene Systeme nicht mehr bis zu ihrem Anfang zurückverfolgen. Chaos ist entstanden. Das System ist zerfallen. Es gibt nichts mehr, was es noch zusammenhalten könnte.
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Ilya Prigogine hat, was die asymmetrische Entwicklung von Zuständen dynamischer Systeme im Rahmen der Thermodynamik betrifft, auf zweierlei Zeiten hingewiesen: auf die, in deren Umgebung sich das System befindet, das ist die ›äußere‹, und diejenige, die das System selbst produziert, das ist die ›innere‹. Die ›innere‹ äußert sich als Zeitpfeil, der seine Ursache nimmt in minimal unregelmäßigen Anfangsbedingungen und sich allmählich aufschaukelt zu einem heftig anwachsenden Kontinuum aus Rückkoppelungen und Oszillationen, einem Zeitpfeil also, der im Verlauf des Systems übergeht von anfänglicher Ordnung in komplexe Nichtordnung. Die ›äußere‹ Zeit wird im allgemeinen mit der Uhr gemessen, und gilt daher als die reversible Zeit tr. Die ›innere‹ Zeit gibt die dynamischen Veränderungen der Systemzustände wieder; sie verläuft irreversibel und wird deshalb mit ti bezeichnet. Weil ti keine kontinuierliche Zeit ist, sondern eine ›schwankende‹, ist mit ihr Geschichte in das System gekommen. Dynamische Systeme ›altern‹ – das sind zum Beispiel Organe – oder dynamische Systeme ›verschleißen‹ – das sind Maschinen. Die ›innere‹ Zeit ist ein Zeitoperator. Er erlaubt Aussagen über die zeitliche Entwicklung von komplexen Bündeln von Trajektorien oder Verteilungsfunktionen, die mathematisch als Eigenfunktionen des Zeitoperators fungieren. Beide Zeitsysteme hängen insofern zusammen, als tr eine absolute Größe darstellt und ti eine relative, wobei die relative nur ihren Sinn erhält, weil der Grad ihrer Asymmetrie sich bezieht auf die Symmetrie, an die tr gekoppelt ist.
Ist das R h y t h m u s , so wie wir Rhythmus beim Musikzieren oder Musikhören erleben? Ich meine ja. Das Metrum allein, in gewisser Weise auch der Takt, steht nur für die ›äußere‹ Zeit, die ›Uhr‹. Sie läuft ohne unsere Beeinflussung ab, reversibel, und wird auf Dauer als höchst langweilig empfunden. Ein musikalischer Rhythmus entsteht erst dann, will heißen, wird erst dann erlebt, wenn Eigenfunktionen eines irreversiblen dynamischen Zeitsystems hinzukommen. Sie artikulieren sich als ›innere‹ Zeit. Der Integrationsmechanismus unseres Gehirns vergleicht ›blitzartig‹ beide Zeiten miteinander und erlebt (diskriminiert) ihre Abweichungen als Spannung. Je mehr Abweichungen selbst und auch graduelle Unterschiede von Abweichungen unser Geist erkennt, umso mehr empfinden wir Vergnügen! Was wir dabei tatsächlich erleben, ist die Asynchronität beider Zeitgestalten, die Wechselwirkung des immergleichen Metrums einerseits und die der unvorhersehbaren Abweichungen von eben diesem Metrum andererseits. Der musikalische Rhythmus ist demnach keine absolute Größe, sondern eine relative. Der musikalische Rhythmus existiert also nur im Spannungsfeld zwischen Reversibilität und Irreversibilität.
Alles ästhetische Empfinden ist nur abhängig von biologisch vorgegebenen Hirnmechanismen und von sonst nichts Anderem. Die Zellmembranen der Neuronen oszillieren in einem Takt, dessen Impulsstärke und Impulsdauer von einem elektrischen Nervenpotential generiert wird. Auf diese Weise entsteht eine zeitliche Grundstruktur, die sich in mehrfacher Weise auswirkt: Sie steuert Bewegungsabläufe und stimmt sie aufeinander ab; die zeitliche Grundstruktur stellt Zeitintervalle her, in denen musikalische Inhalte verstanden und übermittelt werden – es handelt sich i. allg. um ein Drei-Sekundenfenster, innerhalb dessen Bewusstseinsinhalte als einheitliche Gestalt erlebt werden; die zeitliche Grundstruktur ermöglicht ganzzahlige Teilungen von Notenwerten; und schließlich erlaubt die zeitliche Grundstruktur, das richtige Tempo für ein Musikstück zu finden, in dem sein musikalischer Bewusstseinsinhalt zum Einen überhaupt erkannt und zum Anderen im Wiederholungsfall auch wiedererkannt wird – bei falschem Tempo werden die Bewusstseinsinhalte verzerrt erlebt oder schlimmstenfalls nicht mehr erkannt. Gerade die Kontrolle des Tempos kann sich nicht aus Traditionen oder gar dem Musikstück selbst ergeben, ebenso wenig wie ganzzahlig definierte Zeiteinteilungen von Notenlängen; sie erfordern spezifische Programme des Gehirns.
Also kommen ästhetische Empfindungen aufgrund von taktierten und damit gerasterten Neuronenpoten-tialen zustande. Im Gehirn entstehen Synchronisationswellen und damit Resonanz. Je mehr Gleichtakt zwischen den von außen kommenden sinnlich wahrgenommenen Impulsen mit denen der in den Nervenknoten generierten Impulsen übereinstimmen, desto mehr empfinden wir das Wahrgenommene als ›schön‹. Das heißt, dass ›Schönheit‹ wie bisher verstanden nicht Ergebnis einer diskutierten Qualität ist, sondern eine körperbedingte und deshalb eine als solche zu akzeptierende Tatsache.
Leonberg, 11. 1. 2007
Opus: 58
Glockenstaub, 5. Orgelsonate (2006/7) op. 58 – ca. 14’38" – Erbacher Musikverlag
Glockenstaub, 5. Orgelsonate (2006/7) op. 58
Die beiden Grundstrukturen „beiseele – im Innersten“ und „begrenzt im Unbegrenzten“ sind im Oktober 2006 in Leonberg entstanden in unmittelbarem Anschluss an eine ausgedehnte Orgelfahrt mit meinem Freund Alexandr Fiseisky aus Moskau und einem Teil seiner Studenten. Als ich Oksana Svergun, eine von ihnen – gerade mal erst seit einigen Wochen bei ihm – in Proben und Konzerten spielen hörte, war ich von der Leidenschaft und der tiefen Empfindsamkeit ihres Orgelspiels derart überwältigt, dass blitzartig der Wunsch vor mir stand, ein musikalisches Porträt von ihr und für sie zu machen. Oksana Svergun stimmte zu.
„beiseele – im Innersten“: Oksana spielte in den Konzerten immer wieder die beiden Choralbearbeitungen „Herzlich tut mich verlangen“ von Johannes Brahms. Sie gehören zum Letzten, was Brahms komponiert hat, die Choralvorspiele op. 122. Dieser Zyklus ist gekennzeichnet von Tod und Ewigkeit, Krankheit und Verzweiflung über den Verlust ihm nahe stehender Freunde. Wie Oksana dies erfühlt und in Klingendes umgesetzt hat, hat mich zutiefst bewegt. Sie spielte die kinetischen Abläufe zögernd, dem Zerbrechen nah – zweifelnd, der Verzweiflung nah. Dass sie sich in die schicksalhafte Lebensendlichkeit von Johannes Brahms so selbstvergessen einzufühlen vermag, verrät eine Persönlichkeit, wie ich sie hinter einer jungen fröhlichen Frau bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. – Unter diesen Eindrücken ist „beiseele – im Innersten“ entstanden.
„begrenzt im Unbegrenzten“: Das Zeitspiel und der Klang der Glocken von meines Großvaters Kirche (heute ein Teilort von Lahr) gehören zu meinen lebhaften Kindheitserinnerungen. Ich weiß noch gut, wie ich die Wucht des vollen und bedrohlich lärmenden Geläutes auf dem leeren Platz vor dem Pfarrhaus mit weichen Knien durchlebte, und wie ich das Ausläuten herbeisehnte, wo die Schläge schütter und immer matter werden, welche Zeitmuster das Auspendeln mit sich bringt, und wann der letzte Schlag erfolgt oder ob danach doch noch ein allerletzter nachfolgt, vollkommen isoliert, besonders bei der tiefen besonders massereichen Glocke. Ihre Schläge wurden immer mehr von einer geheimnisvollen Stille ummantelt. Wenn sich der Hörwinkel selektiv auf die ton- und geräuschhaften Anteile eines jeden Glockenklangs richtet, auf die Nebengeräusche im Glockenstuhl, und wenn der Klöppel beim Auspendeln zusammen mit der noch schwingenden Glocke immer chaotischere und überraschendere Spielchen treibt, gibt der Klang der Glocke endgültig sein Geheimnis preis. Und selbst danach scheint sie noch eine Weile fortzuschlagen, auch wenn sie in messbarer Realität längst keinen Schall mehr verbreitet. In diesem Stadium erklingt sie in jenem wundervollen Zwischenreich, wo Wirklichkeit und Traumwelt ineinander fließen. Das zu erleben war für mich als Kind eine unglaublich aufregende Grenzerfahrung, von der ich noch wochenlang zehrte, auch dann noch, als wir längst wieder zu hause in Karlsruhe gewesen waren und sogar bis heute noch. – Das zweite, was mich heute noch genau so fesselt wie damals, sind die Zeitklangmuster, die sich bilden im vollen Spiel sich überlagernder Zeitebenen. Jede Glocke pendelt in ihrem Grundtempo, wenn auch nicht immer konstant, vor allem dann nicht wenn es stürmte. Doch gerade die Inkonstanz ist es, was die Muster des Zusammenspiels stetig verändert, kaum merklich, muss man doch schon ganz genau ins bewegte Klingen hineinlauschen, wenn man von diesen schier okkulten Vorgängen etwas mitbekommen will. (Wie muss das früher gewesen sein, als jede Glocke noch per Seil von Menschenhand gezogen wurde) Die Klangmuster verzerren sich wie jene Spiegelbilder, die mit einem weichen Spiegel, einem Zerrspiegel, gemacht werden, dessen Spiegelfläche man stetig ganz behutsam verbiegt. Dadurch verändern sich die Klangmuster fließend, finden höchstens annähernd zu ihrer alten Form zurück, verhalten sich, je weiter sie sich von ihrem Ursprung entfernen chaotisch, immer mehr, bis sie das Ausgangsmuster endgültig zerrissen haben. Ein komplexes Glockenläuten mag zwar bei oberflächlichem Hinhören den Eindruck von zeitlicher Gleichförmigkeit erwecken, ist aber in Wirklichkeit ein Klang der stetig fließender Übergänge.
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Warum habe ich in Oksana Sverguns Orgelsonate ausgerechnet ein Glockengeläute eingesetzt, wo die Orgel doch ein Aerophon ist, ein Luftklinger also, und kein Idiophon? Eine Orgelpfeife kann man durch Draufschlagen oder gar, indem man auf ihr herumklöppelt, nicht zum wirklichen Klingen bringen. So macht man sie höchstens kaputt. Und die Geräusche, die beim Draufschlagen oder Draufklöppeln entstehen, klingen nach Allem, bloß nicht nach Glocke. Also warum ein Glockengeläute ausgerechnet mit Orgel-pfeifen, zumal Oksana Svergun schließlich Organistin ist und nicht Glöcknerin? Wenn ich in Moskau bin, habe ich das Glück, etwa dreihundert Meter neben dem Neujungfrauenkloster bei Alexandr Fiseisky zu wohnen. Dort bin ich jedes Mal wieder von dem Glockengeläute und der Art zu läuten derart hingerissen, dass es mir von Mal zu Mal schwerer fällt, beim Abschied nach Deutschland von ihrem Zauber loszulassen. So manche Stunde habe ich dem Glockenläuten nur gelauscht, auf der Loggia, morgens, abends, sonntags im Kloster, oder sonst wann drinnen oder draußen. Ich brauche ja nur die wenigen Schritte rüber zu gehen, um dort hinter den Klostermauern jene Ruhe zu finden, die ich zum intensiven Hören brauche, besonders beim Ausläuten. Und was hat das alles mit Oksana Svergun zu tun? Wenn mich der Glanz der sonnenumfluteten goldenen Kuppeln des Neujungfrauenklosters verzaubert, und die Umgebung in Mattigkeit versinkt, wenn der Chor der Glocken sich mischt aus schwer-gewaltiger Tiefe hinauf zu hellem nervösem Bimmeln, fortwährend seine Klangmuster verändernd, zeitvergessen, begrenzt im Unbegrenzten, dann erlebe ich etwas, von dem ich annehme, dass das mit ‚russischer Seele’ zu tun hat. Ich wollte doch von und für Oksana Svergun, einer ‚russischen Seele’, ein musikalisches Porträt machen, von dem ich mir erhoffe, dass es gelungen ist. Erkennt sie, wie ich sie in den Klangmustern von begrenzt im Unbegrenzten spiegle bis zum Ausläuten in stetig fließenden Über- gängen?
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Glockenstaub. Wieso ‚Staub’? ‚Staub’ steht allgemein für massenhaft auftretende winzige Teile wie in der Luft umherwirbelnder Schmutz oder auch wie viele kleine Goldkörner als sogenannter Goldstaub. Ich fand rein zufällig in einem Buch, das sich mit der Chaostheorie beschäftigt, das Wort ‚Staub’ wiederum in einer anderen ganz speziellen Bedeutung: Dieser ‚Staub’ geht auf den Mathematiker Georg Cantor (1845 – 1918) zurück, der ein Verfahren dafür entwickelt hat, wie man über die Unendlichkeit hinaus zählen kann und wie man transfinite Zahlen konstruiert. Dabei nimmt Cantor das mittlere Drittel einer Strecke heraus; danach nimmt er aus diesem bereits herausgenommenen Drittel wiederum das mittlere Drittel heraus, nimmt weiterhin immer das mittlere Drittel heraus und setzt diesen Prozess bis ins Unendliche fort. Das Ergebnis einer solchen Operation ist ein „Diskontinuum“, eine staubartige Punktmenge, der „Cantorsche Staub“. Er ist das Abbild von fraktalen Strukturen, also von Strukturen, die sich linear in stets verkleinernder Selbstähnlichkeit theoretisch bis ins Unendliche fortsetzen. Auch in den nichtlinearen dissipativen Strukturen eines thermodynamischen Systems tritt Selbstähnlichkeit auf, zwar in anderer Form: asymmetrisch-rückgekoppelt. Diese nichtlineare asymmetrische Selbstähnlichkeit führt aufgrund von Rückkoppelungen zu Phasenverdoppelungen und damit zu einem Rauschen, das sich fraktal intermittierend (dazwischengeschoben oder eingesetzt) bis zum Systemende fortsetzt. – „Beiseele – im Innersten“ und „begrenzt im Unbegrenzten“ sind solche asymmetrisch-rückgekoppelte Strukturen, die sich stets fortentwickeln. Zwischen die vier Stufen von „beiseele – im Innersten“ sind im Wechsel eingeschoben die vier Stufen von „begrenzt im Unbegrenzten“. – Erst wenige Tage, nachdem die 5. Orgelsonate fertig war, stieß ich auf diesen ‚Cantorschen Staub’ und entdeckte im Ablauf meiner Sonate eine gewisse Ähnlichkeit zu intermittierenden Strukturverläufen, wohl erkennend, dass meine Komposition strengen mathematischen Kriterien nicht standhalten kann (was mich auch weiterhin gar nicht stört). Nachdem ich mit den beiden Wortklängen ‚Glocke’ und ‚Staub’ begonnen hatte auditiv zu spielen, und, wie ich zugebe, mir das Ergebnis dieses Spiels, nämlich der ‚Glockenstaub’, so gut gefallen hat, wollte ich auf den Titel ‚Glockenstaub’ nicht mehr verzichten.
Leonberg, 11. 2. 2007
Opus: 59
... und ich sage ja zu Heisenberg für Trompete in C und kolorierende Orgel mit mechanischer Spieltraktur (2012) op. 59 – ca. 7' – Erbacher Musikverlag
... und ich sage ja zu Heisenberg für Trompete in C und kolorierende Orgel mit mechanischer Spieltraktur (2012) op. 59
Wird beim Spiel einer Orgel mit mechanischer Spieltraktur der Motor (das Gebläse) ausgeschaltet, so sinkt der Winddruck im Verlauf des weiteren Spiels so lange, bis der Blasebalg leer ist. Bei wenigen geöffneten Pfeifen dauert's bis dahin länger, bei mehr geöffneten Pfeifen geht's selbstverständlich schneller. Dieser Vorgang hat zur Folge, dass die Windkraft (der Winddruck) immer weniger ausreicht, den Grundton einer Pfeife (auf den die Pfeife gestimmt ist) zu generieren, weshalb die Pfeife nur noch in einen Oberton überbläst (also wesentlich höher klingt als normal). Dann gilt: je weniger Winddruck desto höher der Oberton und umso fragiler und instabiler der Klang. Weil bei abgeschaltetem Motor der Winddruck im Blasebalg nachlässt und die Verhältnisse instabil werden, kann niemand vorhersagen, wann genau welcher Oberton in der Pfeife 'anspringen' wird und in welchem Tempo sich der Klang 'nach oben hin' verflüchtigt. Hier klaffen das Schriftbild und das Hörbild entschieden auseinander: Das Tastenbild entspricht zwar noch dem Schriftbild, nicht aber dem Hörergebnis, weder in Tonhöhen noch in Tonlängen und schon gar nicht im Klang v e r l a u f . Die Klänge changieren unablässig. Ihre Schwingungen erzeugen in der Kleinheit ihrer Quanteneigenschaften Interferenzmuster und Überlagerungszustände, was bei allem Einspruch, der da heißt, der Mensch könne Quanten nicht erfassen, doch darauf hinweist, dass das Kontinuum aus Frequenz und Zeit einer quantenbedingten Unschärfe unterliegen, die wir letztlich über das Gehör äußerst differenziert wahrnehmen. Die stehenden Wellen in einer Pfeife werden von außen durch die Luftzufuhr über den arbeitenden Blasebalg angeregt mit den Eigenfrequenzen der Pfeifen Resonanzen zu bilden. Je kürzer diese Töne gespielt werden, desto eher schwingen Töne mit, die um die Eigenfrequenzen einer Pfeife herumliegen, ohne jedoch Obertöne zu sein. Diese Töne verhalten sich zu den Obertönen der Pfeifen in mathematischem Sinn unharmonisch, und das umso mehr, je kürzer diese Töne gespielt werden. Bei attackierten Tönen ist die Streuung solcher Töne am höchsten. Das Ergebnis macht die Töne bezogen auf die Naturtöne 'unscharf'. So stehen Tonlängen - wenn zwar äußerst kurze - und 'Klangfarben' in einer speziellen Relation zueinander: in Unschärferelation.
Was die Unschärferelation einiger Trompetenklänge angeht, so gibt es immerhin einige wenige Gemeinsamkeiten mit denen einer Orgel. Ich rede nicht von so trivialen Dingen wie dem Luftreservoir eines Blasebalgs oder dem der Lunge, auch nicht von schwingenden Luftsäulen weder in der Pfeifenorgel noch im Trompetenrohr, auch rede ich nicht davon, dass alle Trompetenklänge bis auf den Grundton und dessen Erniedrigungen Ergebnis von Überblasen sind - das sind alles mechanische Dinge -, ich rede ausschließlich von quantenbedingten Unschärferelationen in der Tonbildung. Dazu gehören nicht nur die isolierten kurz und scharf attackierten sehr lauten Töne, um deren 'natürlichen' Obertonklang Unharmonische streuen, dazu gehören auch die geschmetterten Klänge, die nach demselben Prinzip funktionieren. Die Geräuschcharakteristik macht die Töne 'unscharf'. Im kesselförmigen Mundstück bildet sich am Übergang von der Sohle rechtwinklig zur Wand ein Kreisattraktor aus Luft, der einen Teil der harmonisch zustande gekommenen Schwingungen zu unharmonischen verwirbelt. Weder bei den isolierten kurz und scharf attackierten Tönen noch bei den geschmetterten Tönen hat der Trompeter auf den Klang v e r l a u f letztlich Einfluss. Er gestaltet zwar diskret die Tonhöhen und ebenso diskret die Tonlängen, aber der Eigendynamik, die das Kontinuum aus Tonraum mit Tonhöhe, Tondauer und Lautstärke zusammen mit mit Zeit auszeichnet, ist er ausgesetzt. Klangwiederholungen gibt es kaum.
Eine der wesentlichen Aufgaben des Trompeters im 'Heisenberg' ist, den Tönen eine innere Bewegtheit zu verleihen. Dazu zählen neben der Fantasie des Trompeters Flatter- (F), Doppel- (D) und Tripelzunge (T) wie auch der Wechsel von offener (o) zu die Stürze verschließender Spielweise (+). Kernstück des Trompetenklangs ist die besondere Umstimmung der Trompete. Durch Ausziehen der Ventilbögen bis zu einem gewissen Grad werden bestimmte Töne und ihre Obertöne erniedrigt. Diese weichen von der Orgelstimmung teilweise so sehr ab, dass bei 'gleichen' Tönen (Schriftbild) ein Stimmungsunterschied gehört wird von reizvoll farbig bis zu verstimmt falsch. Doch stabil sind diese Qualitäten nicht, sie ändern sich ständig. - Zur Inszenierung des Trompeters: Wird der 'Heisenberg' in einer Kirche aufgeführt, so steht der Trompeter ein klein wenig vor dem Bogen zur Apsis. Gibt es keine Apsis, so steht der Trompeter vor dem Altar. Dreht er sich, so ist das kein billiges Abwenden vom Publikum, sondern eine akustische Maßnahme, indem der Schall von der Wand gebrochen und indirekt zurückgeworfen wird, also kein Theater sondern eine Klangqualität.
Ich wünsche mir eine möglichst sensible und farbenfrohe Tongestaltung voller Geheimnisse.
Leonberg, 8. 6. 2013
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... und ich sage ja zu Heisenberg für Trompete in C und kolorierende Orgel mit mechanischer Spieltraktur (2012) op. 59
Wird beim Spiel einer Orgel mit mechanischer Spieltraktur der Motor ausgeschaltet, so sinkt der Winddruck im Verlauf des weiteren Spiels so lange, bis der Blasebalg leer ist. Bei wenigen geöffneten Pfeifen dauert es bis dahin länger, bei mehr geöffneten Pfeifen dauert es selbstverständlich kürzer. Während dieses Vorgangs reicht der Winddruck nicht mehr aus, den Grundton der Pfeife zu generieren, weshalb das System nur noch in seine Obertöne überbläst. Dann gilt: je weniger Winddruck desto höher der Oberton. Niemand kann vorhersagen, wann genau welcher Oberton 'anspringen' wird und in welchem Tempo sich der Klang nach oben hin verflüchtigen wird. Hier klaffen Schriftbild und Hörbild auseinander: Das Tastenbild entspricht zwar noch dem Schriftbild, nicht aber dem Hörergebnis, weder in seinen Tonhöhen noch in seinen Tonlängen und schon gar nicht in seinem Klang v e r l a u f . Die Klänge sind instabil und changieren. Sie sind das Ergebnis des Kontinuums aus Frequenz und Zeit und haben unter bestimmten Bedingungen die Tendenz 'unscharf' zu werden. Dann nämlich entstehen bei Luftzufuhr von außen - hier durch den Blasebalg - im Bestreben Resonanzen zu bilden Unharmonische, die die von den Eigenfrequenzen einer Pfeife abweichen. Je kürzer und lauter ihre Klangansprache desto weiter streuen sie um die Harmonischen, desto 'unschärfer' machen sie diese Harmonischen. Auf diese Weise erweist sich das Kontinuum aus Frequenz, Klangdauer, Lautstärke und Zeit als U n s c h ä r f e r e l a t i o n .
Unschärfe wirkt sich auch unter bestimmten Bedingungen in Trompetentönen aus. Auch hier beeinflusst das Kontinuum aus Frequenz, Klangdauer, Lautsärke und der Einwirkung von Zeit den Klang v e r l a u f . Je kürzer und lauter (gestochen) diese Klänge als Solitäre sind, desto 'unschärfer' werden sie. Dieselbe Wirkung tritt auch auf beim so genannten Schmettern. Im kesselförmigen Mundstück bildet sich am Übergang von der Sohle zur Wand (Zarge) ein Kreisattraktor aus Luft, dessen chaotischer Verlauf Unharmonische erzeugt. Je lauter (martialischer) diese Töne sind, umso 'unschärfer' werden sie. Der Trompeter hat also, was die Schärferelation angeht, nur einen eingeschränkten Einfluss auf die Tonbildung, auch wenn er die Tonhöhen, die Tondauer und die Lautstärke noch so diskret gestaltet. Den Klang v e r l a u f letztlich bestzimmt das Kontinuum aus Frequenz, Klangdauer, Lautstärke und der Einwirkung von Zeit, also die U n s c h ä r f e r e l a t i o n .
Eine der wesentlichen Aufgaben des Trompeters im 'Heisenberg' ist, den Tönen eine innere Bewegtheit zu verleihen. Dazu zählen neben der Fantasie des Trompeters Flatter- (F), Doppel- (D) und Tripelzunge (T) wie auch der Wechsel von offener (o) zu die Stürze verschließender Spielweise (+). Kernstück des Trompetenklangs ist die besondere Umstimmung der Trompete. Durch Ausziehen der Ventilbögen bis zu einem gewissen Grad werden bestimmte Obertöne erniedrigt. Diese weichen von der Orgelstimmung teilweise so sehr ab, dass bei 'gleichen' Tönen (Schriftbild) ein Stimmungsunterschied wahrgenommen wird von reizvoll farbig bis zu verstimmt falsch. Doch stabil sind diese Qualitäten nicht, sie ändern sich ständig. - Zur Inszenierung des Trompeters: Der Standort des Trompeters ist mit Bedacht gewählt: Wird der 'Heisenberg' in einer Kirche mit Apsis aufgeführt, so steht der Trompeter nicht in der Nähe des Organisten, sondern im Parterre ein klein wenig vor dem Bogen, der die Apsis vom Schiff trennt. Wenn es keine Apsis gibt, steht der Trompeter auf der Höhe vor dem Altar. Dreht er sich, so ist das kein billiges Abwenden vom Publikum, sondern eine akustische Maßnahme, indem von der Rückwand der Schall indirekt zurückgeworfen wird, also eine Klangqualität.
Ich wünsche mir eine möglichst sensible und farbenfrohe Tongestaltung voller Geheimnisse.
Leonberg, 27. 6. 2013
Opus: 60
Kreisende Kreise (2016)
Acht Verse von Johanna Erbacher-Binder für tiefe Frauenstimme und resonierendes Klavier op. 60 – knapp 5' – Erbacher Musikverlag
Kreisende Kreise (2016)
Acht Verse von Johanna Erbacher-Binder für tiefe Frauenstimme und resonierendes Klavier op. 60
Kreisende Kreise
gleiten sehr leise um ihre Reise
in die Vergangenheit.
Ruhende Kreise
weisen als Schleife die ewige Bleibe
weit in Unendlichkeit.
Spirale Kreise
winden das eigene Ich in die Weite,
führen zur Freiheit – auch die der Anderen.
Gleiche Kreise
unten wie oben, die Null an der Seite
steigert just Achtsamkeit.
Dreierlei Kreise
teilen die Achtzig der Schwaben in G’scheitheit,
doppelt Vergesslichkeit.
Schließende Kreise,
schwindende Jahre im Kreislauf der Zeiten,
reiche Erinnerung.
Tänze im Kreise,
Schritte ins Künftige werden beweisen,
das war Vergangenheit.
Im Kreise der Lieben
feiert das -zig mit fröhlichen Leuten
jubelnd Geburtstagsfest.
Man soll den Wortlaut möglichst gut verstehen. Um das zu ermöglichen bin ich vom gesprochenen Wort ausgegangen, dessen Sprechmelodie ich durch Exaltation in Tonhöhen verwandelt habe. So entstand eine zu singende Melodie. Die Gestik ob gesprochen oder gesungen ist gleich geblieben. Kommt dazu, dass unser Hirn Musik als etwas Komplexes wahrnimmt, indem es jede einzelne Frequenz mit anderen in irgendeinen Zusammenhang bringt und diese Frequenz mit den umliegenden zu einem Klangfeld komponiert. Solche Felder sind Kraftfelder mit einem jeweils eigenständigen Verlauf, seien’s einzelne Silben, ganze Wörter oder gar ganze Sätze. Jedes Feld generiert eine Menge von normalerweise so gut wie nicht hörbaren Differenz- und Summationstönen, die der Klavierpart größtenteils aufgreift und in seiner Lautheit erheblich verstärkt. Diese Töne schwingen alle bereits schon beim Aussprechen des Gedichts, also bereits schon längst bevor dieser Text musikalisiert wird, also gesungen wird. Daher ist der Klavierpart von vornherein schon mal gar nichts anderes als ein Teil des Gesprochenen Worts. Er schwingt nur laut als Resonanz mit.
Leonberg 18. 7. 2016
Opus: 61
2. Klaviersonate, Steininger (2016/17) op. 61
Dauer an die drei Minuten oder noch bis zu viel mehr – Erbacher Musikverlag
2. Klaviersonate, Steininger (2016/17) op. 61
Dauer um drei Minuten oder vielleicht noch ganz viel mehr
Die Zeit könnte, wenn es sie gäbe, nicht deutlicher sein als in ihrer Abwesenheit.
*
Attackiert man eine Saite mit einem äußerst kurzen und zugleich scharfem Anschlag, besonders mit dem einer massereichen Basssaite, so erklingen zu den üblichen Obertönen noch jede Menge weitere Töne und Klänge, also lauter Unharmonische. Darunter sind vagierende, oszillierende, instabile, schwebende. Sie allesamt weisen auf ein dynamsiches System hin, das sich im Verbund mit der Zeit von selbst entwertet, indem sich alle noch zu Anfang des Prozesses wirkenden Potenziale am Prozessende in ihr Gegenteil verkehrt haben.
Die Ton- oder auch Klangdauern in der 2. Klaviersonate, Steininger op. 61 sind nicht näher determiniert. Wir nehmen sie wahr nur ungenau am unteren Rand unseres Bewusstseins, dem des Pianisten oder dem der Pianistin und letztlich unserem eigenen, dem des Publikums. Je weiter dieser untere Rand im Bewusstsein absinkt, wobei das Wachsein allmählich übergeht in ein Wegdämmern hin zum Einschlafen, umso mehr schwindet das sonst so sicher geglaubte Gefühl für Zeit und für die Abläufe innerhalb einer Zeit, also innerhalb eines festgezurrten Parcours von gesteckter Zeit. In diesem Zustand, also einer besonderen Form des Gerade-noch-Wachseins, wird das Gehörte nicht mehr wahrgenommen als Ergebnis einer von Zahlen und ihren Proportionen bestimmten rational geprägten Wirklichkeit sondern als Teil einer traumhaften Welt mit ganz anderen Regeln und Zusammenhängen. Davon unabhängig ist die Eigenschaft eines jeden Klangs, dass er entsteht neben dem, dass er ist, so wie er ist, in seinem Sein und dann nur ein einziges Mal so er ist, wie er ist, weil er immer weiter verklingt, bis dass er gewesen war und nicht wiederholt werden kann, weil er jedes Mal, wenn er ist, anders ist als er war. Eine Wiederholung von Tönen und Klängen in ihren räumlichen wie zeitlichen Proportionen gibt es nicht, selbst wenn im Schriftbild die Anweisung zu Anschlag und Duktus von Mal zu Mal zum Verwechseln gleich aussehen. Trotz allen Scheins sind die ausgelösten Klänge dennoch nicht gleich. Allen Bemühens um Wiederholbarkeit zum Trotz entsteht in räumlicher wie zeitlicher Ausdehnung immer etwas Anderes. Dadurch gibt es nur Ähnlichkeiten. Aufschreibbar zum Zweck Einmaliges zu konservieren sind solche Klänge nicht. Man kann sie nur andeutungsweise aufschreiben. Ihre Dauer und Lautstärke kommt aus der Auslösung des Klangs ganz von selbst, also nur von innen heraus und niemals vorgeschrieben von außen: eins, zwei, drei, vier …
*
Anfängliche Gedanken zum Stück reichen ins Frühjahr 2013. Der Name ‚Steininger‘ ist Programm. Florian Steininger hat mich als Pianist und Spezialist neuester Klaviermusik bei der pianistischen Umsetzung von meiner Klangvorstellung ins Schriftbild beraten. So lag es nur nahe, ihm mit der Beifügung seines Namens zu danken.
Leonberg, 19./29. 6. 2017
Opus: 62
Die Windsbraut für Klavier (2016/17) op. 62 – Dauer 14 ½ ' – Erbacher Musikverlag
Die Windsbraut für Klavier (2016/17) op. 62
… und ich war gerade in der Galerie Würth in Schwäbisch-Hall. Dort verguckte ich mich in die Windsbraut von Anselm Kiefer.
Wir haben damals gelernt den Ton mechanisch zu definieren. Hätten wir das dem Newton gesagt, so hätte der sich sicher darüber gefreut, sogar noch vierhundert Jahre danach. Dem Ilya Prigogine, dem wir’s auch hätten sagen können, haben wir’s aber genauso wenig gesagt wie dem Newton, obwohl wir’s ihm, dem Prigogine, noch hätten sagen können, denn der hatte damals noch gelebt. Damit, dass wir’s ihm gesagt hätten, wenn wir’s ihm denn gesagt hätten, hätten wir ihm vielleicht eine Freude bereitet. Und er hätte sich womöglich dazu noch geäußert, was dann vielleicht sogar auch uns gefreut hätte. Doch dazu kam es nicht. Wir haben’s ihm nicht gesagt, weil wir ihn weder gekannt noch etwas von ihm gewusst haben. Das ist schade. So glaubten wir weiterhin an Newton und seine Mechanik. Das war ein Fehler. In Newtons Mechanik kommt Zeit nämlich nur als Maß und nicht als die Zeit selbst vor, als Maß wie z. B. im Ton nur als Dauer und niemals als Wirkungspotenzial, das den Ton über seine gesamte Dauer hinweg in Bewegung hält und permanent gestaltet. Dadurch i s t ein Ton nicht nur, sondern ein Ton s c h r e i t e t f o r t . Ein Ton lebt von seiner sich stetig verändernden Gestalt, nein ein Ton i s t eine sich stetig verändernde Gestalt. Ein Ton also ist ein Prozess. Newtons Sicht auf den Ton dagegen ist kein Prozess sondern nur eine Momentaufnahme aus eben einem solchen Prozess, ein Ausschnitt bloß aus dem möglichen Verlauf eines Tons. Doch ein Wirkungspotenzial wirkt nicht nur im Augenblick, es wirkt über den gesamten Verlauf eines Tons. Es steuert sein dynamisches Verhalten von Anfang bis zu seinem Ende. So ist der Ton nichts Statisches, als das Newton uns den Ton glauben macht. Später dann haben wir gelernt das, was einen Ton in seiner Dynamik ausmacht, auch auf formtreibende Prozesse anzuwenden. Form erwächst nach unserem Verständnis aus dem Geschehen, ist etwas Aktives und freilich stets Veränderliches. So haben wir Abläufe entwickelt, die in ihrer Selbstorganisation und in ihrem Verlauf von nahe bis fern vom thermodynamischen Gleichgewicht den Lebensprozessen nahe stehen, ja, die sogar nicht nur lebensnahe Strukturen abbilden sondern so in lebendigen Strukturen auch anzutreffen sind, individuell und einmalig. Ohne die bahnbrechenden Erkenntnisse von Ilya Prigogine wäre uns das nicht gelungen. Ilya Prigogine sei’s gedankt. Jeder Ton entwickelt während seines Verlaufs eine Geschichte. Doch die Frage: weshalb aber gerade diese?
Die Windsbraut ist eine Möglichkeit von prozessualer Weiterkomposition der zweiten Struktur meines Mobile für Klavier (1962) op. 1.
Leonberg, Ende Februar 2017
Opus: 63
MobileSonate, 3. Klaviersonate (2017/18) op. 63 - acht Teile - Erbacher Musikverlag
MobileSonate, 3. Klaviersonate (2017/18) op. 63
Die MobileSonate ist in gewisser Weise die Weiterkomposition meines Mobiles op. 1 aus dem Jahr 1962. Das Mobile ist komponiert als eine fakultative Reihung in offener Form. Sein Klangreservoir gründet auf der Sonorität einer Zwölftonreihe. Diese verhält sich modal. Damit ist das Mobile nicht bewegungsgerichtet. Es gibt kein Davor und kein Danach weder räumlich noch zeitlich. Das Mobile ist kein Prozess. Die in Prozessen wirkenden Potenziale sind wegrationalisiert. Reihungen haben weder einen expliziten Anfang noch ein explizites Ende. Sie sind zufällig. Auf diese Weise verhält sich das Mobile linear und nimmt keine Entwicklung. Das Mobile befindet sich im thermodynamischen Gleichgewicht – die Zwölftonreihe und ihre Transpositionen laufen in immergleichen Verhältnissen ab. Deshalb sind sie vorhersagbar. Die Sektionen sind weil gleichwertig austauschbar. Das ist offene Form. Die Struktur entwertet sich nicht. Will man eine Reihung beenden, so muss man einfach abbrechen oder aufhören. Es gibt keinen komponierten Schluss. Man beschließt das Mobile nach irgendeiner Sektion ohne ein tatsächliches Ende gefunden zu haben.
Doch in der MobileSonate gibt’s ein Ende. Alle Töne, Klänge, Strukturen sind sich selbst entwertende Prozesse und laufen in ein natürliches Ende. Ihre Ausgangspotenziale führen im Zusammenwirken mit der Zeit dorthin. Dann ist Nichtordnung und zugleich das Ende jeglicher Struktur. Das dann ist der Zerfall. Dann haben sich alle Anfangspotenziale in ihr Gegenteil verkehrt. Dann auch ist der höchste Entropiewert entstanden verbunden mit den geringstmöglichen Energiewerten. Das System ist erloschen.
Bei sich selbst entwertenden Klängen handelt es sich um sogenannte offene thermodynamische Systeme. Sie kommunizieren mit ihrer Umgebung, was geschlossene thermodynamische Systeme nicht tun. Geschlossene Systeme geben das mechanische Weltbild Newtons wieder nur als Momentaufnahme nicht aber den Verlauf des gesamten Prozesses von seinem Beginn bis in sein Ende. Deshalb kennen Töne und Klänge als mechanische Theorie keinen Verlauf. Doch natürliche Töne und Klänge haben einen Verlauf. Sie verlaufen rückgekoppelt mit ihrer Umgebung. Da ist zunächst das schwingungsfähige Medium, in dem der Ton, der Klang durch Auslenkung und erhöhten Materiefluss entsteht, also in der Materie wie Luft, Saite, Fell, Lippen, Zungen usw. Diese Schwingungen oder Flüsse verlaufen in der Regel nichtlinear und nichtvorhersagbar. Diese Schwingungen oder Flüsse sind Prozesse. Sie verlaufen mehr oder weniger weitab vom thermodynamischen Gleichgewicht. Sie führen häufig zur Selbstorganisation, d. i. die partielle Potenzialumkehr in der Potenzialumkehr. Je dichter die Materie – in unserem Fall je komplexer die Klänge und ihre Folge, also der bewegte Raum – umso langsamer fließt das Tempo der Potenzialumkehr oder umgekehrt gilt: je langsamer das Tempo des bewegten Raums umso dichter ist dieser Raum oder je dichter und komplexer die Klänge sind, umso langsamer fließt die Zeit. Auf diese Weise sind Klänge nichts Absolutes sondern Klänge sind bewegte Zeit. Sie bewegen sich in ihr mal schneller mal langsamer, mal im wörtlichen Sinn raumgreifender mal nicht. Raum und Zeit bilden ein Kontinuum, die so genannte Raumzeit. In der MobileSonate erklingen sich bedingend Raum und Zeit.
Leonberg 22. 10 1917
Opus: 64
Verlust und Beständigkeit – „Es ist da etwas gesagt, …“
für solistisch besetzte multiphonische Ensembles, die im Raum verteilt; also für ein letztlich wirklich
Großes Orchester (2017/18) op. 64 - Dauer von mindestens 24 Minuten - Erbacher Musikverlag
Verlust und Beständigkeit – „Es ist da etwas gesagt, …“
für solistisch besetzte multiphonische Ensembles, die im Raum verteilt; also für ein letztlich wirklich
Großes Orchester (2017/18) op. 64
„Es ist da etwas gesagt, was ich seit längerer Zeit auf den Lippen habe“ schreibt Gustav Mahler im Sommer 1908 an Bruno Walter. Dort im Komponierhäuschen bei Toblach am Ende des Pustertals hat er’s geschrieben. Derzeit entstehen gerade die IX. Symphonie und das ‚Lied von der Erde‘, später dann, 1911, folgen noch kurz vor seinem Tod die Fragmente zur X. Symphonie. Das Komponierhäuschen ist eine simple dünnwandige Holzhütte bestehend aus einem einzigen Raum etwa vier auf vier Meter. Der Ausblick geht nach Norden auf die Matten überm Pustertal ansteigend bis auf etwa 1600 m, dazwischen fast versteckt das Dorf Aufkirchen. Viel Grün unterm Himmel.
Im Mai 2017 war ich dort. Die karge Örtlichkeit hat mich trotz oder wegen aller Ausgeräumtheit schier erdrückt. Was für ein Gegensatz zu der hier entstandenen Musik! Das hat mir wieder einmal aufs Neue klar gemacht, wie wenig man zum Komponieren braucht. Dann danach: Die an den Wänden hängenden Kopien von Handschriftlichem, Noten mit zum Teil wilden Korrekturen, Postkarten und Briefe mit Mahlers teigiger Schrift, gedruckten Programmzetteln, Probenplänen, angebräunten Fotografien von allerhand Personen und Gebäuden, unscharfen Fotos von Orchesterproben und den folgenden Uraufführungen, Texten Anderer vor allem zu Mahlers 50. Geburtstag.
In seiner IX. Symphonie greift Mahler frühere Gedanken über die Vergänglichkeit auf. Er hat sich immer wieder mit diesem Thema beschäftigt, sei’s noch naiv wie in der IV. Symphonie, einer geplanten Burleske, entstanden zwischen 1892 und hauptsächlich 1900, sei’s in den kurz nach der Jahrhundertwende entstandenen ‚Kindertotenliedern‘ – Mahler hatte zwei Geschwister im Kindesalter verloren – oder sei’s jetzt erneut in der IX. Symphonie, konfrontiert mit dem Tod der fünfzehnjährigen Maria, der ersten seiner beiden Töchter, im Juli 1907. „Es ist da etwas gesagt, was ich seit längerer Zeit auf den Lippen habe.“ Mahler greift in seiner IX. Symphonie auf, was ihn über die Jahre nie wieder losgelassen hat, was vielleicht sogar sein Lebensthema überhaupt gewesen war: die Vergänglichkeit des Irdischen und auch alle Vergänglichkeit im Irdischen.
Ich habe 1981/82 den Zyklus משמים mischamajim komponiert ohne einen zwingenden Zugang zur Jüdischkeit zu haben. Ich habe zwar etwas in mir verspürt, konnte es aber nicht verstehen. Vielleicht war’s das, was mich damals umgetrieben hat, nämlich die Erkenntnis, dass das Bestandhaben allen Bestehens auf Dauer doch nur eine Fiktion ist, und dass diese Erkenntnis bzw. dieser Umstand insofern zu beklagen ist, als sich im Verlust der Beständigkeit die eigene Vergänglichkeit zeigt. Dieses Thema habe ich wieder aufgegriffen, auch wenn nichts von dem, was einmal gewesen ist, freilich so wiederkehrt, wie’s einmal gewesen war. Und trotzdem ist bei aller Vergänglichkeit da etwas gesagt, was bleibt, denn so, wie’s gesagt wird, verändert sich’s von Mal zu Mal und bleibt in seiner Unbeständigkeit dennoch beständig. Mein Term, meine Numeri, der Posaunenchor, נהי nöhi, die Porträts, die Etyms und der Halo, alles Stücke meiner früheren Jahre, kommen darin vor.
Leonberg 14. 6. 2017
Bis jetzt sind nur Pläne vorhanden
Besetzung :
[I] Fl. picc. (c2 - c5), Gr. Fl. (h - f4), Fl. d’amore (b - es4), Altflöte sul g (g - c4), Tenorfl. (a- cis4), Bassfl. (c - f3), Kontra-Altfl. (G - c3), Kontrabassfl. (C - f2), Subkontrabassfl. (,C- f1
[II] Ob. (b - g3), Ob. d’Amore (gis - cis3), Englhr. (e - b2), Heckelphon (H - g2), Fg. (,B - d2), Kontrafg. (,C - b), Sarrusophon (,C - f)
[III] Clar. picc. (g - as3), Kl. in b (d - f3), Kl. in a(cis - e3), Bassethr. (A - b2), Altkl. in es (G - as2), Basskl. in B (D - f2), Basskl. in A (Des - e2), Kontrabasskl. in F (,A - f1), Kontrabasskl. in Es (,G - es1)
[IV] Sopranino in es (des1 - as3), Sopransax. in b (as - e3), Altsax. in es (des - a2), Tenorsax. in B (As - e2), Baritonsax. in Es (Des - a1), Basssax. in B (,B), Kontrabasssax in Es (,Des - a), Subkontrabasssax. in B (,,As - e)
[I] 2 Hohe Flügelhr. in A u. B (dis1 - e3/e1 - f3), 2 Piccolo-Bügelhr. in Es u. F (a - des3/ h - es3), Sopranflügelhr. in B (e - b2), 2 Altflügel-hr. in Es u. F (A - f2/H - g2), Baritonflügelhr. in B (E - c2), Basstuba in B (,A - b1), tiefes Bassflügelhr. [Bombardon] in Es (,,C - f1/), tiefe Basstu. in F (,,D - f1), Kontrabasstu. in C (,,H - b)
[II] 2 Hr. in B und f (,B - f2), Wagner-Tenortu. in B (Es - d2), Wagner-Basstu. in F (,B - a1)
[III] 4 Tp. in F/B/C u. D (H - b2/es - c3/fis - c3/gis - d3), 3 Basstp. in Es/C/B (A - b2/Fis - g2/E - f2)
[IV] Altpos. (C- Es/A - es2), Tenor-Basspos. in F/B (,E - d2), Basspos. (,D - ,F/,H - a1), Kontrabasspos. in tief B (,,Es - d1)
für jedes Ensemble ein spezielles Schlgzg.
jedem Ensemble zugeordnet Chordophone wie Hrf., Git., Ggn., Brn., Vci., Kbe. u. a.